Kapitalismus und Ungleichheit - Die neuen Verwerfungen

Kapitalismus und Ungleichheit - Die neuen Verwerfungen

von: Heinz Bude, Philipp Staab

Campus Verlag, 2016

ISBN: 9783593434759

Sprache: Deutsch

370 Seiten, Download: 3490 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Kapitalismus und Ungleichheit - Die neuen Verwerfungen



Einleitung: Kapitalismus und Ungleichheit -Neue Antworten auf alte Fragen
Heinz Bude und Philipp Staab

Man braucht nicht so viel Mut für die Behauptung, dass soziale Ungleichheit das gesellschaftliche Megathema der nächsten dreißig Jahre sein wird. Die großen Trends, die unsere Lebensweise auf dem Globus verändern, wie der klimatische, der demographische sowie der digitale Wandel werden von der weltweit sich verändernden gesellschaftlichen Ungleichheit gebrochen. Schließlich hängt es von unserer Ausstattung mit Geld, Macht und Wissen ab, wie uns der Klimawandel trifft, wie sich unser Lebensalter vor, mit und vor allem nach der Erwerbsarbeit gestaltet und welchen Nutzen wir aus den Angeboten digitaler Lebensassistenz ziehen können.
Für die Soziologie der Gegenwart geht es darum, die Schicksale der Ausgesetztheit und Privilegien des Schutzes, die Versperrung von Zugängen und die Monopolisierung von Ressourcen als systematische Effekte des sozio-ökonomischen Wandels zu begreifen. Sie muss dabei konzedieren, dass nicht von vorneherein ausgemacht ist, wer die Gewinner und wer die Verlierer weltgesellschaftlicher Veränderungsdynamiken sein werden. Werden die Bewohner der alten Welt des OECD-Raums wie in den vergangenen 200 Jahren die Nase vorn haben oder werden sich in einer neu konturierten Weltgesellschaft Gruppen an die Spitze setzen, deren Pioniergewinne und Hybridgestalten mit dem methodischen und semantischen Instrumentarium der klassischen Soziologie kaum noch zu fassen sind?
Seit der letzten Jahrhundertwende stellt sich jedenfalls die Frage, welche Zusammenhänge zwischen der Globalisierung unserer Weltbezüge und der Entwicklung sozialer Ungleichheit bestehen. Die passende Antwort hat man allerdings nicht sogleich zur Hand. Grundlagentheoretisch versucht die Soziologie sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie aus multiplen Differenzen zwischen Individuen, Gruppen und Nationen durchschlagende Ungleichheiten werden (Diewald/Faist 2011). Dahinter steht die Frage, wie die Welt von morgen aussehen wird, wenn Europa nur noch 6 Prozent der Weltbevölkerung stellt, wenn in den Schwellenländern von heute eine neue Mittelklasse den Ton angibt (Mau 2012) und wenn in Afrika die großräumigen Feldversuche mit Saatgut und Smartphone eine bisher ungeahnte Ökologie des Neuen erzeugt haben (Geissler u.?a. 2012).
Das Gesellschaftsdenken kommt unter diesen neuen Bedingungen auf sein klassisches Format zurück: auf die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, auf die Form und Funktionsweise von Herrschaft sowie auf die Erzeugung von Legitimität und die Formierung von Kritik (vgl. Dahrendorf 1961).
Immer lauter wird heute die Frage gestellt, was nach dem Ende der dreißigjährigen Periode, die mit dem Machtantritt von Margret Thatcher in Großbritannien, von Deng Xiaoping in China und von Ronald Reagan in den USA begonnen hat und mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 zu Ende gegangen ist, zu erwarten steht. Erleben wir 'das befremdliche Überleben des Neoliberalismus' (Crouch 2011) oder treten wir ein in ein Zeitalter der Abdankung Europas und der gesamten OECD-Welt und des Aufstiegs des riesigen Rests der Menschheit? Kennt die Welt, die sich mit der Globalisierung von Ökonomie, Migration, Wissenschaft und Kulturindustrie zu einem polyzentrischen Raum der weltweiten Vergleichbarkeit bei gleichzeitiger Zuspitzung der Unterschiede verwandelt hat, überhaupt noch die Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft oder ist das Kommende nur noch als Effekt zunehmend interdependenter, aber letztlich kontingenter Handlungssequenzen denkbar?
Mit diesen Fragen rührt die Soziologie der Ungleichheit an die Grundgegebenheiten unserer Lebensweise. Sie verspricht aus Sicht des Publikums die Wahrheit über die Spaltung der Gesellschaft, über die Unterwerfung der Leute und über den Betrug der Öffentlichkeit zur Sprache zu bringen, indem sie mit einer Konstellation wechselseitiger Abschreckung bricht, die über eine lange Zeit das gesellschaftswissenschaftliche Denken beherrscht hat: der Gegenüberstellung des Marktes, der nach einem Gesetz ohne Erbarmen funktioniert, und der Kultur, die den Eigensinn der Lebenspraxen konserviert. Mit der wahlweisen Heiligung des Marktes als Anderem der Kultur oder der Kultur als Anderem des Marktes waren die Einflusssphären der Gesellschaftsbeobachtung lange Zeit abgesteckt. Auf der Strecke blieb die Kategorie der Gesellschaft als eigentliche Grundlage dieses kalten Friedens und Verbindungsglied zwischen den Sphären ökonomischer Selbstdurchsetzung und kultureller Selbstverwirklichung.
Mit dem Ungleichheitsthema ist die Gesellschaft zurückgekehrt und damit ein Wirklichkeitsbedarf, der sich offenbar nicht nach Maßgabe eines historistischen Antiessentialismus befriedigen lässt, welcher sich in der Klärung von Beobachterstandpunkte und der Entschlüsselung von Wissenssystemen erschöpft - aber sicher auch nicht nach Art eines ökonomischen Evolutionismus, der sich im Gefolge von Hayek oder Kondratjef an den Triebwagen des Fortschritts hält, der nun mal Sieger und Besiegte, Herrschende und Beherrschte, Nützliche und Überflüssige hervorbringt. Die Soziologie der Ungleichheit ist, womöglich anders als die Organisations-, Netzwerk- oder Mediensoziologie, darauf angewiesen, die Erfahrungstatsachen von Privilegierung und Benachteiligung, von Teilhabe und Exklusion, Macht und Ohnmacht so abzubilden, wie sie sich den Betroffenen darstellen. Es geht, wie Husserl seinerzeit gefordert hatte, um die 'Rückkehr zu den Sachen selbst' (Husserl 2009 [1911]), um am Leitfaden von Phänomenen und Problemen (Bude 2008), die in der Praxis der Menschen eine Bedeutung haben, zu klären, was uns unter den Nägeln brennt, worunter wir alle leiden und wie wir uns zu retten versuchen.

Gesellschaftsanalyse jenseits des Ressentiments
Für eine solche Gesellschaftsbeschreibung besteht allerdings die Gefahr der Empörungsverstärkung und Misstrauensunterstützung. Die Soziologie kämpft immer mit der Versuchung, ihrem eingebildeten Mandanten zu schmeicheln und dabei nicht mehr zu merken, wie dieser schon die Regie über die eigene Erkenntnisproduktion übernommen hat. Als wissenschaftliche Disziplin besitzt sie seit ihren Anfängen diese Seite einer, mit Nietzsche gesprochen, Ressentiment-Wissenschaft, die einen polemischen Gesellschaftsbegriff bedient. Doch Kritik wird dann billig, wenn sie in der Rollenübernahme der 'Erniedrigten und Beleidigten' - eine Formel nicht von Marx, sondern von Dostojewski - das Vorrecht in Anspruch nimmt, für die Leute zu sprechen, die ihr Leben unter nicht selbst gewählten Bedingungen führen müssen, aber in vorauseilender Empathie das theoretische Rätsel des Zusammenhangs zwischen Freiheitsspielräumen und Zurichtungsmechanismen ungelöst lässt. Gesellschaftstheoretische Gewinne bleiben auf der Strecke, wenn ein ums andre Mal die Ergebnisse der Ungleichheitsforschung zur Skandalisierung von Ungerechtigkeiten bei Bildung, Gesundheit oder Geschlecht herangezogen und dabei die Kontroversen bei der Deutung dieser Sachverhalte verschwiegen werden. Dann wird nicht die Akzeptanz von gesellschaftlicher Ungleichheit geklärt, sondern die Inakzeptanz von Abständen bei Einkommen und Vermögen und von Schranken im Auf- und Abstieg zur Schau gestellt.
Dazu passen Herrschaftstheorien, welche die Durchgängigkeit eines Dominanzerzeugungsmechanismus unterstellen, bei dem wenige aktiv und die meisten passiv sind und die oft ein Verhältnis von Elite und Masse bestätigen. Wenn dann noch Ideologiekritik in der Weise geübt wird, dass ein externer Beobachter die Verkehrtheit der Verhältnisse und die Unüberwindbarkeit der Widersprüche erkennt, deren Erfassen den Betroffenen selbst verschlossen ist, dann droht die Gesellschaftstheorie zu einem geschlossenen System entweder prophetischer Endzeiterwartung (und sei es in Form eines verzögerten Messianismus 'kommender' oder 'vertagter Demokratie' (Derrida 2003: 37)) oder stoischer Weltflucht (und sei es in Form einer liberalen Skepsis (Löwith 1956)) zu werden (vgl. Boltanski 2010). Eine Soziologie sozialer Ungleichheit, die die komplexen Wechselwirkungen in der Weltgesellschaft und deren unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten ernstnehmen will, muss dagegen die Abkürzung des Ressentiments meiden, ohne zugleich auf die Beschreibung systematischer Zusammenhänge zu verzichten.

Ungleichheit
Die Paradoxie der gesellschaftlichen Ungleichheit besteht heute darin, dass sich einerseits nach zwei Jahrhunderten kontinuierlicher und scheinbar unaufhaltsamer Abstandsnahme zwischen den entwickelten Ökonomien des Westens und dem Rest der Welt die Ungleichheit im Lebensstandard zwischen den Ländern kontinuierlich und scheinbar unaufhaltsam verringert und andererseits in der gleichen Zeit die gesellschaftliche Ungleichheit innerhalb vieler Länder sich zuspitzt (Bourguignon 2013).
Im internationalen Vergleich entsteht so das Bild zweier Ländergruppen, deren eine nach beinahe 150 Jahren rasanter Wohlstandsgewinne in eine Situation relativer Stagnation geraten, und deren andere erst vor kurzem aus dem ökonomischen Dornröschenschlaf erwacht ist und seither einen rasanten Aufstieg erlebt hat. Auf der einen Seite stehen mit den G 7-Staaten USA, Deutschland, Japan, Großbritannien, Frankreich, Italien und Kanada sowie weiterer Teile Westeuropas, die nach wie vor dominanten Epizentren technologischer Innovation, autopoetischer Geldvermehrung und internationaler Handelsaktivitäten. Auf der anderen Seite befinden sich die Tiger-Staaten Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong, die BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China, die Panterstaaten Indonesien, Malaysia, Thailand und die Philippinen sowie die Next-11, wie Jim O'Neill (2012), seinerzeit Chefökonom von Goldman Sachs, 2005 die Gruppe von Ägypten, Bangladesch, Indonesien, Iran, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Philippinen (die schon als Panterstaat gezählt wurden) und Südkorea nach Maßgabe von Kriterien wie Humankapital, Infrastruktur, Staatstätigkeit und volkswirtschaftliche Offenheit genannt hat. Sie sind in eine Dynamik der Wechselwirkung mit den alten Pionierökonomien des Westens eingetreten, gewinnen aber zugleich an wirtschafts- und machtpolitischer Autonomie gegenüber dem alten weltwirtschaftlichen Herrschaftskomplex.
Im Zeichen der zwischenstaatlichen Verringerung der Abstände ist bereits von einer nächsten weltwirtschaftlichen Konvergenzbewegung die Rede (Spence 2011). Fest steht, dass es an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zu einer Umkehrung der Wachstumsgeschwindigkeiten zwischen den einstigen Industriestaaten und den ehemaligen Einwicklungsländern und entsprechend zu einer Richtungsänderung in der Entwicklung sozialer Ungleichheit gekommen ist. Während man noch vor zwanzig Jahren in Deutschland oder Frankreich im Durchschnitt zwanzigmal besser lebte als in China oder Indien, ist der heutige Lebensstandard hier nur mehr zehnmal so hoch wie dort (Bourguignon 2013: 8).
Im alten Westen geht nicht mehr alles aufwärts und voran. In den USA, die nach wie vor als das reichste Land der Welt gelten, hat gesellschaftliche Ungleichheit heute wieder einen Stand wie zuletzt vor hundert Jahren erreicht (ebd.). Die Lebenserwartung weißer Männer ohne College-Abschluss ist zwischen 1990 und 2007 um drei Jahre gesunken; bei weißen gering gebildeten Frauen sogar um fünf Jahre. Zwischen African Americans und White Americans hat sich der Abstand in der Lebenserwartung im gleichen Zeitraum zwar reduziert. Aber im Jahr 2008 betrug der Abstand zwischen Schwarzen mit weniger als zwölf Jahren Schulbildung und Weißen mit mehr als sechzehn Jahren unglaubliche zwölf Jahre. Das ist dieselbe Differenz wie zwischen der mittleren Lebenserwartung in den USA und Bolivien und stellt keineswegs eine Besonderheit Nordamerikas dar. Selbst im Bildungswunderland Finnland ist zwischen 2004 und 2007 die Lebenserwartung von Arbeitslosen und Alleinlebenden wieder auf den Stand vom Ende der 1980er Jahre gefallen (Therborn 2013: 7-10).
Offenbar ist die Selektivität der Begünstigungen und Benachteiligungen innerhalb eines gemeinsamen Bezugskosmos extremer geworden. So ergab eine Langzeitstudie, die die Entwicklung von Armut in Großbritannien zwischen 1983 und 2012 untersuchte, dass trotz wirtschaftlichen Wachstums die materielle Not zunimmt. Obwohl sich die ökonomische Gesamtleistung des Landes in den vergangenen drei Jahrzehnten des Neoliberalismus verdoppelt hat, hat sich der Anteil der Haushalte, die ihre Wohnung im Winter nicht ausreichend heizen können von 3 auf 9 Prozent verdreifacht. Die Zahl der Briten, die aus finanziellen Gründen von Zeit zu Zeit auf Mahlzeiten verzichteten, hat sich seit 1983 auf 28 Prozent mehr als verdoppelt (Lansley/Mack 2015). Einen solchen Befund kann man schlecht als Steigerung relativer Armut durch relativen Reichtum abtun. Denn zum täglichen warmen Essen gehört im Winter eine warme Stube für die ganze Familie. Wer sich das in einem Kernland Europas heutzutage nicht leisten kann, ist nicht nur relativ, sondern absolut arm (Bude 2015: 19).
Obwohl der Kuchen insgesamt größer wird, gibt es eine ganze Menge Leute, die ein kleineres Stück davon abbekommen. Das ist insofern neu, als über eine lange Nachkriegszeit im G 7-Zentrum der Weltwirtschaft eine Profitierungslogik vorherrschte, nach der am Ende auch die unteren und peripheren Schichten an der allgemeinen Wohlstandssteigerung beteiligt waren. Ulrich Beck hat dafür am Beispiel der Bundesrepublik in den 1980er Jahren das Bild des 'Fahrstuhleffekts' geprägt, um deutlich zu machen, dass bei weitgehend gleichbleibenden Verhältnissen der Ungleichheit innerhalb einer Generation der 'Wohlstand für alle' sich mehrte. Er hielt fest: 'Es gibt bei allen sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum' (Beck 1986: 122).
Das stimmt so nicht mehr und man fragt sich, woher das kommt, wer die Begünstigten und wer die Benachteiligten der neuen Verhältnisse des Vorn- und Hinten- und Abgeschlagenseins sind. Für Großbritannien, das sich in den vergangenen drei Jahrzehnten seines industriellen Stocks in großen Teilen entledigt und auf das Modell einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft mit einem wertschöpfungsstarken finanzindustriellen Block gesetzt hat, ist die These von der Polarisierung der Beschäftigungsstruktur entwickelt worden (Goose/Manning 2007). Wer das Glück einer guten Ausbildung, einer richtigen Berufswahl, einer passenden Partnerwahl und einer treffenden Ortswahl für den Lebensmittelpunkt hatte, für die und für den gab es in der Periode des Neoliberalismus auch bei Belastungen durch ein bildungsfernes Elternhaus oder eine stigmatisierte Zuwanderungsgeschichte in einem 'tollen Job' in der hochproduktiven Dienstleistungsökonomie viel zu gewinnen. Wer allerdings dieses vielfache Glück nicht hatte, für die und für den blieb dann nur ein 'lausiger Job' in den einfachen Dienstleistungen von Sichern, Säubern und Service. Im breiten Raum zwischen diesen Extremen, im traditionellen Fachhandel, im mittleren Management, in der geschulten Facharbeit, in der staatlichen Daseinsvorsorge, stellte sich die Frage, ob man nach oben wegkommen oder nach unten abrutschen konnte. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts bedeutete gerade für die Positionen mit sukzessivem Statuserwerb den Verlust von traditionellen Senioritätsrechten. Die Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen in den Bereichen des Verkehrs, der Bildung, des Gesundheitswesens, der Postzustellung oder der Müllbeseitigung schuf um den öffentlichen Dienst einen Kranz prekärer, das heißt befristeter, teilzeitlicher und gering entlohnter Beschäftigung (Nachtwey 2016), wie überhaupt die Umstellung vom rundum 'sorgenden' auf den nur noch 'gewährleistenden Wohlfahrstaat' dem staatsbezogenen Mittelstand auch in Deutschland das orientierenden Gerüst für seine Statusprätention nahm (Vogel 2009). Gerade für die mittleren Statuspositionen ist in den alten Staaten des kapitalistischen Zentrums die Findung und Behauptung eines Rangplatzes zu einer lebenslangen Aufgabe geworden. Es ist in der entsprechenden Forschung von 'investiver Statusarbeit' die Rede (Schimank u.?a. 2014).

Kapitalismus
Grundlage der skizzierten Entwicklungen sozialer Ungleichheit sind systematische Transformationen des Kapitalismus in den vergangenen dreißig Jahren. Als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Idee des freien Marktes zu ihrem letzten globalen Eroberungsfeldzug aufbrach, war man zumindest im globalen Norden noch von der Hoffnung beseelt, die Erschließung neuer Konsummärkte, die Expansion von Handelsbeziehungen und die weltweite Restrukturierung von Wertschöpfungsprozessen eröffneten allseitige Profitierungsperspektiven. Nach drei Jahrzehnten wirtschaftlicher Globalisierung hat sich heute freilich Katerstimmung breitgemacht. Sowohl in den hochentwickelten Ökonomien des Nordens als auch in den neu erschlossenen Märkten des globalen Südens haben von den Wohlstandgewinnen der Globalisierung unterschiedliche Gruppen höchst selektiv profitiert: Im Süden steht den in Relation zu den jeweiligen Gesamtbevölkerungen nach wie vor relativ kleinen, neuen Mittelschichten ein 'Planet der Slums' gegenüber (Davis 2006), in dem sich die Entwurzelten und Ausgeschlossenen der Weltgesellschaft sammeln. Kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse in den Weltmarktfabriken von Shenzen bis Dhaka haben hier noch Verheißungscharakter, bildet die einzige reale Alternative doch eine 'Ökonomie des Überlebens' in der 'Arrival-Welt' der Megacities (Saunders 2012).
Selbst in den Zentren der vermeintlichen Gewinner der weltwirtschaftlichen Integration, wie Deutschland oder den Vereinigten Staaten, sind den Globalisierungsoptimisten längst Zweifel gekommen. Deutschland steht zwar vergleichsweise glücklich dar: Den hidden champions der exportorientierten Hochproduktivitätsökonomie ist offenbar eine produktivitätssteigernde Kombination industrieller Fertigung mit analogen und digitalen Dienstleistungskomponenten aus einer Hand gelungen, die ihre Stellung auf den Weltmärkten noch gestärkt hat. Zudem hat eine politisch induzierte Restrukturierung des Arbeitsmarktes zu einer Aktivierung stillgestellten Arbeitsvermögens beigetragen. Schließlich hat der Krisenkorporatismus von 2008 Einbrüche bei der Beschäftigung nicht nur verhindert, sondern dieser sogar noch Schwung verliehen.
Doch ist zugleich die Stabilisierung von Wachstum und Beschäftigung durch Jahrzehnte negativer Handelsbilanzen in Verruf geraten. Wer nur exportiert und nicht konsumiert, so die Kritik, lebt auf Kosten seiner Nachbarn. Darüber hinaus gilt die verstärkte Standortkonkurrenz seit den 1990er Jahren als Grund für die Polarisierung betrieblicher Arbeitsmärkte und den Rückgang gut entlohnter einfacher Beschäftigungsarten im industriellen Sektor. An deren Stelle sind, wie in den meisten anderen Ökonomien der OECD-Welt, ein wohlfahrtsstaatlich alimentiertes Dienstleistungsproletariat (Staab 2014) und eine heterogene Gruppe von Grenzgängern zwischen Arbeitsmarkt und Transferbezug (Grimm u.?a. 2013) sowie diverse Formen randständiger Beschäftigung im industriellen Sektor getreten (Brinkmann/Nachtwey 2014). Die in den goldenen dreißig Jahren zur Respektabilität aufgestiegenen Arbeitermilieus (vgl. Mooser 1984) sind in der Generationenfolge nur zum Teil in die Ränge der akademischen Dienstklassen gewandert. Den Gewinnern der Aufwertung an den post-industriellen Arbeitsmärkten stehen neue Verlierergruppen gegenüber, die aus den Mittelschichten in subalterne Soziallagen abgerutscht sind. In den USA scheint eine gezielte Deindustrialisierung den entscheidenden Aspekt eines Formwandels sozialer Ungleichheit seit den 1980er Jahren darzustellen und Arbeitslosigkeit, die Expansion geringfügiger Beschäftigungsformen und Reallohnverluste erzeugt zu haben (vgl. Autor u.?a. 2013). Paul Krugman geht gar so weit, den Aufstieg populistischer Politikstile in den USA als Effekt der durch Globalisierungsprozesse erzeugten sozio-ökonomischen Verwerfungen zu beschreiben (2016) und fasst damit auch den 'Strukturwandel der Öffentlichkeit' (Habermas 1968) durch neue Sprechautorisierungen und Assoziationsmedien im beginnenden 21. Jahrhundert als Effekt kapitalistischer Transformationsdynamiken.
Zu den Makroentwicklungen kapitalistischer Transformation, die in den vergangenen Jahrzehnten die neuen sozialen Verwerfungen in der Weltgesellschaft geprägt haben, zählt schließlich auch der Aufstieg des Finanzsektors und die Diffusion der dort vorherrschenden ökonomischen Logiken weit jenseits der Börsen und Bankentürme (Brinkmann 2011). Der Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus (Windolf 2005) seit den 1980er Jahren führte die Weltwirtschaft nicht nur in die tiefgreifendste Krise seit dem Black Friday von 1929, sondern hatte auch schon im Vorfeld des Platzens der US-Immobilienblase systematische Effekte für die Entwicklung sozialer Ungleichheit in hochgradig finanzialisierten Ökonomien. Da immer mehr Unternehmen freies Kapital nicht zur Investition in Produktionsanlagen oder gar zur Ausschüttung an die Arbeitnehmer, sondern für reine Finanzgeschäfte und die Bedienung von Share-Holder-Interessen nutzten, gerieten Löhne weltweit sukzessive unter Druck. Der Markt hielt zudem als Steuerungsprinzip bis in die kleinsten Arbeitsabläufe hinein Einzug in Unternehmen und erzeugte damit Druck, wo neue Organisationskonzepte eigentlich höhere Freiheitsgrade versprechen sollten (Glißmann/Peters 2001). Die Winner-takes-all- Logik der Finanzmärkte führte zur Entstehung einer Vermögensoligarchie (Neckel 2014), die sich allen gesellschaftlichen Solidaritätsforderungen und selbst dem Legitimationsnarrativ der Leistungsgerechtigkeit ihrem Selbstverständnis nach entzog (Neckel u.?a. 2010). Die größte globale Protestbewegung der vergangenen Jahrzehnte richtete sich entsprechend gerade gegen das finanzpolitische Regime, das mit den Mittelschichten des globalen Nordens in der großen Krise von 2007/2008 auch die ehemaligen Profiteure steigender Investitionsrenditen und günstiger Konsumkredite in den Abgrund riss. Die konstanten Turbulenzen, die die Finanzmärkte seither prägen, sind durch eine Politik des billigen Geldes womöglich nur zeitweise ruhiggestellt (Streeck 2014). Das Kapital flieht zum einen in die vermeintlich krisensicheren Anlageformen der Immobilienbranche, wodurch selbst gut verdienenden Akademikern in München, London oder Paris jede realistische Chance genommen wird, Immobilienbesitz aus Arbeitseinkommen zu finanzieren.
Zum anderen sucht der wagemutige Teil der Vermögensbesitzer sein Heil in Hochrisikoprodukten wie sie seit dem großen Crash nicht mehr nur Finanzinstitute, sondern, wie bereits in den 1990er Jahren, vor allem Unternehmen der digitalen Ökonomie anbieten (Staab 2016). Venture Capital ist zu einem entscheidenden Treiber technologischer Innovationen geworden, die nun vielfach jenseits der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen industrieller Großunternehmen in den Leitunternehmen des Silicon Valley und den um diese Technologieplaneten kreisenden Startups stattfinden. In vielversprechende Ideen werden astronomische Summen investiert, wohlwissend, dass nur wenige Geschäftsmodelle sich langfristig auszahlen werden. Die Kalkulation richtet sich auf den rechtzeitigen Exit, das Losschlagen der eigenen Anteile an einer Unternehmung zum günstigsten Zeitpunkt. Welch durchschlagende Effekte die Ausrichtung der Wertschöpfungsstrukturen an der Lotterie zukünftig erhoffter Gewinne hat, lässt sich in extremer Zuspitzung in Städten wie San Francisco beobachten, wo eine sozial abgeschirmte Klasse von Technologieexperten, die Preise für Wohnraum bestimmt. Die technische Intelligenz bildet die Funktionselite der Digitalisierung. Als Treiber technologischer Innovationen setzt sie die Standards, denen zu folgen immer größeren Teilen der ansässigen Bevölkerung unmöglich geworden ist. Es überrascht daher nicht, dass das universitäre Epizentrum des Silicon Valley, die Stanford University, den Ruf erworben hat, Studierende um den Preis des Studienabbruchs zur Gründung neuer Unternehmen zu ermuntern und Professoren als Teilhaber dieser Unternehmen die Bildungsdividenden der Abbrecher mit einstreichen (Thompson 2013).
Die digitale Umwälzung der globalen Ökonomie ist keineswegs mehr auf die Informations- und Kommunikationsbranche beschränkt. Mit smarten Robotik- und EDV-Anwendungen drängen Leitunternehmen der Digitalisierung, wie Google, Amazon oder Apple, in den industriellen Sektor. Dort haben auch die Maschinenbauer und Ausrüster alter Schule die Zeichen der Zeit erkannt und eine neue industrielle Revolution ausgerufen, deren Markenkern das in den 1980er Jahren von Intel propagierte Prinzip des 'Copy EXACTLY!' bildet (Pfeiffer 2015: 29). Durch eine neue Welle der Standardisierung und Integration industrieller Wertschöpfungsketten und die Angleichung der Produktionsbedingungen sollen Standorte weltweit vereinheitlicht werden. So wird perspektivisch die Globalisierung der 1990er und 2000er Jahre durch die Herstellung einheitlicher Standards innerhalb einer Wertschöpfungskette in allen Weltregionen vollendet. Vollkommene Vergleichbarkeit freilich bedeutet grundsätzliche Ersetzbarkeit, weswegen dieses Programm in der Lage ist, auch die Konkurrenz zwischen Beschäftigten unterschiedlicher Weltregionen zu komplettieren, indem die Barrieren und Reibungsverluste, die üblicherweise bei Übersetzungsprozessen zwischen unterschiedlichen Standorten erzeugt werden, obsolet werden.
Nicht nur im Kontext der Winner-takes-all-Konstellationen der Finanzwelt und des Silicon Valley, sondern auch in den globalen Produktionsketten der Industrie akzelleriert somit die Krise des Mittelmaßes, sollen das Erfahrungswissen der praktischen Intelligenz aus Facharbeit und Produktionsingenieuren, ebenso wie die Verwaltungsstäbe der Planungs-, Kalkulations- und Synchronisierungsapparate doch durch technologische Standardisierungsprozesse ihre Schlüsselfunktionen einbüßen. Dem Kapitalismus der Gegenwart scheint daher eine Polarisierungsbewegung inhärent, die sich nicht nur innerhalb einzelner Nationalstaaten, sondern auch anhand transnationaler Wertschöpfungsketten verfolgen lässt.

Der Band
Der vorliegende Band hat zum Ziel, die Entwicklung sozialer Ungleichheit in Relation zu strukturbestimmenden Transformationen des Kapitalismus zu erschließen. Der erste Teil widmet sich daher Veränderungen der Wertschöpfungsstrukturen im Kapitalismus der Gegenwart. Aaron Sahr analysiert finanzmarktgetriebene Modelle der Wertschöpfung. Jenseits von Marktmechanismen etablierten sich, so Sahr, im Zuge der Finanzialisierung der Ökonomie 'Plünderungszirkel', die in der Lage waren, die Dividenden eines immer größeren Teils der Wertschöpfung zu akquirieren. Tobias ten Brink fragt nach der Zukunft nicht-liberaler Kapitalismusformen. Am Beispiel Chinas rekonstruiert er die Stärken und Schwächen eines 'Staatskapitalismus 3.0' im Kontext der Wachstumskrise der Weltwirtschaft. Oliver Nachtwey und Philipp Staab widmen sich am Beispiel von Leitunternehmen des Silicon Valley den Konsequenzen der Digitalisierung des Kapitalismus. Sie beschreiben die Neujustierung der Marktchancen von Arbeitskraft als einen systematischen Prozess sozialer Entbettung.
Im zweiten Teil des Bandes geht es um die Ordnung sozialer Ungleichheit im Weltmaßstab. Anja Weiß beginnt mit einem Blick auf den Wissensstand zum Thema globaler Ungleichheit und leitet hieraus programmatische Konsequenzen für die Soziologie her. Heinz Bude widmet sich der Dynamisierung der Sozialstrukturen in der BRIC- und OECD-Welt, die neue Klassenkompositionen entstehen lassen. Manuela Boatc? beschreibt Prozesse der Kommodifizierung von Staatsbürgerschaft, die ein globales Gefüge aus Privilegierung und Exklusion erzeugen. Marktgesteuerte Wege zur Staatsbürgerschaft gelten ihr als Emblem der Durchdringung einer globalen Hierarchie von Nationalstaaten durch transnationale Wanderungsbewegungen unter den Bedingungen eines globalen Kapitalismus.
Im dritten Teil befassen sich die Autoren mit den Zusammenhängen struktureller Transformationen gesellschaftlicher Arbeitsteilung mit der Entwicklung der Sozialstruktur. Sighard Neckel konstatiert eine soziale Spaltungslinie zwischen wirtschaftlich und sozial abgehängten Schichten in neu-feudalen Ausbeutungsverhältnissen und einer neuen Reichtumsoligarchie aus Kapitaleignern, Finanzdienstklassen und Top-Managern, die ihre Herrschaftspositionen durch die Ausübung wirtschaftlicher und politischer Macht reproduzieren. Nicole Mayer-Ahuja beschreibt die Transformation von Arbeitsmärkten durch die Expansion transnationaler Wertschöpfungsketten. Ihr zufolge ist die Zunahme grenzüberschreitender Wertschöpfung keineswegs als linearer Prozess zu verstehen, in dessen Verlauf die Unterschiede zwischen nationalen Arbeitsmärkten verschwänden und sich Ungleichheit international nivelliere. Vielmehr entstünden in transnationalen Wertschöpfungsprozessen ungleichmäßige Verbindungen, die sich in einer Re-Artikulation von Ungleichheit innerhalb von Nationalstaaten sowie zwischen ihnen niederschlügen. Philipp Staab rekonstruiert die Polarisierung der Berufsstruktur in den Staaten der OECD-Welt als Effekt von durch Tertiarisierungsprozesse verursachten Produktivitätsrückgängen. Er zeigt, dass neuere digitale Rationalisierungsstrategien zwar das Potential bergen, im Dienstleistungssektor bisher ungekannte Produktivitätsgewinne zu erzeugen. Es sei jedoch nicht davon auszugehen, dass dies eine Richtungsänderung hinsichtlich der Entwicklung sozialer Ungleichheit bedingen werde. Florian Butollo plädiert im Zeichen des massiven Anstiegs internationaler Migration, der Transformation des traditionellen Wohlfahrtstaates sowie neuerer technologischer Entwicklungen für eine Reformulierung des Theorems der Reservearmee.
Der vierte Teil reflektiert den Zusammenhang von Kapitalismus und Ungleichheit vor dem Hintergrund der Entwicklung politischer Herrschaft und sozialer Konflikte. Oliver Nachtwey fragt, was den Kern europäischer Sozialproteste der jüngeren Vergangenheit bildet. Er beschreibt die Entstehung eines neuen sozialen Konflikttypus, der Forderungen nach einem ganzheitlich gedachten Bürgerstatus zum Thema mache, indem Forderungen der Demokratisierung von Herrschaft mit der Dimension ökonomischer (Un-)Gleichheit verbunden würden. Ungleichheit wird ihm zufolge in der Gegenwart zu einem Thema moralischer Mobilisierung. Wolfgang Streeck widmet sich der Restrukturierung der politischen Ökonomie im Postfordismus und deren Folgen für die Perspektiven der Bürger auf den politischen Prozess. Er beschreibt die Entstehung einer marktbürgerlichen Kundenmentalität, in deren Folge die sozialen Grundlagen sozialstaatlich integrierter Demokratien erodieren. Göran Therborn befasst sich mit der entscheidenden politischen Spaltungslinie innerhalb des globalen Kapitalismus der Gegenwart. Er beschreibt den zentralen sozialen Konflikt des 21. Jahrhunderts klassentheoretisch, als Wettstreit zwischen globalen Mittelklassen und plebejischen Massen innerhalb der Weltgesellschaft.
Im fünften Teil geht es um die Entwicklung der Kapitalismuskritik der Gegenwart. Silke van Dyk blickt hierzu zurück auf die poststrukturalistische Kapitalismuskritik und kontextualisiert diese vor dem Hintergrund der Verschärfung sozialer Ungleichheit. Sie entwirft ein Programm, das deren Anschluss an die stärker klassentheoretischen und ereignisbezogenen Schwerpunkte der Kapitalismuskritik der Gegenwart herstellt. Klaus Dörre beschreibt vor dem Hintergrund der jüngeren Polanyi-Rezeption abschließend einen paradoxen Antikapitalismus im Herzen der deutschen Exportindustrie, dessen politische Heimatlosigkeit ihn im linken wie im rechten Spektrum anschlussfähig macht.

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