Strukturwandel der Anerkennung - Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart

Strukturwandel der Anerkennung - Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart

von: Axel Honneth, Ophelia Lindemann, Stephan Voswinkel

Campus Verlag, 2013

ISBN: 9783593412399

Sprache: Deutsch

303 Seiten, Download: 2708 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Strukturwandel der Anerkennung - Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart



Verwilderungen des sozialen Konflikts. Anerkennungskämpfe zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Axel Honneth

In einigen seiner materialen Analysen hat Talcott Parsons, so als sei er ein soziologischer Nachfahre Hegels, die Etablierung moderner Gesellschaften als einen Prozess der Ausdifferenzierung von verschiedenen Sphären der wechselseitigen Anerkennung beschrieben. Die Kategorie der »Anerkennung«, die in diesen Arbeiten eine Schlüsselrolle übernimmt, soll in Anschluss an William I. Thomas und George H. Mead bezeichnen, welche motivationalen Antriebe es sind, die die Gesellschaftsmitglieder zur Übernahme sozialer Verpflichtungen bewegen: Jeder Mensch ist, wie Parsons sagt, primär an der Wahrung einer Form von »Selbstachtung« interessiert, die auf die Anerkennung durch ihrerseits anerkannte Interaktionspartner angewiesen ist; insofern ist, so heißt es weiter, »einer der schlimmsten Schläge« für das Subjekt, »die Achtung von Menschen zu verlieren, deren Achtung man erwartet« (Parsons 1964b: 146, vgl. auch 1964a: 184 f.). Weil die Gesellschaftsmitglieder mithin nichts mehr befürchten als den Verlust der Anerkennung durch ihr jeweiliges Gegenüber, sind sie nach Auffassung von Parsons in hohem Maße motiviert, sich an gesellschaftlich verbindlich gemachten Normen zu orientieren; denn allein die Erfüllung der damit intern verknüpften Verpflichtungen und Erwartungen sichert ihnen auf Dauer die soziale Achtung ihrer Interaktionspartner.

Aus dieser Sicht auf das menschliche Motivationssystem, die sich von der üblichen Orientierung Parsons an der Freudschen Persönlichkeitstheorie erheblich unterscheidet, ergibt sich für ihn aber mehr als bloß eine veränderte Erklärung der individuellen Bereitschaft zur sozialen Pflichterfüllung; vielmehr wandelt sich in solchen, stärker vom symbolischen Interaktionismus beeinflussten Teilen seines Werkes zugleich mit der Motivationstheorie auch die Vorstellung über die Eigenart institutionalisierter Handlungssphären und die Beschreibung sozialer Konflikte. In Hinblick auf die normativ integrierten Funktionsbereiche von Gesellschaften gewinnt bei Parsons in solchen Zusammenhängen der Gedanke die Oberhand, dass die dabei jeweils als moralische Integrationsquelle dienenden Werte und Normen zugleich Standards liefern müssen, in deren Licht sich die Teilnehmer wechselseitig anerkennen können: Die Subsysteme gesellschaftlich organisierten Handelns müssen deswegen, weil die ihnen innewohnenden Pflichten und Verantwortlichkeiten vor allem aus Antrieben des Strebens nach sozialer Anerkennung erfüllt werden, als ausdifferenzierte, um Normen der reziproken Achtung kristallisierte Handlungssphären begriffen werden. Damit unterwirft sich Parsons der schwierigen Aufgabe, alle die Funktionsbereiche, die er ansonsten nur als institutionelle Verkörperungen von gesellschaftlich geteilten Wertmustern behandelt, nun zugleich auch als Subsysteme wechselseitiger Anerkennung interpretieren zu müssen; und einige seiner materialen Analysen lassen sich nach meinem Eindruck als Schritte der Durchführung eines solchen Programms verstehen, weil sie den Versuch unternehmen, das moderne Wirtschaftssystem, die Sphäre des modernen Rechts und das Subsys­tem der Familie als in legitimen Ordnungen stabilisierte Verhältnisse reziproker Anerkennung zu untersuchen. Parsons befindet sich, so lautet meine These, in diesen unorthodoxen Teilen seiner Theorie auf dem Weg zurück von Weber über Durkheim zu Hegel; auch er möchte, wie der Autor der »Rechtsphilosophie«, die normative Ordnung moderner Gesellschaften nach dem Muster eines funktional arbeitsteilig operierenden Systems moralisch integrierter Anerkennungssphären begreifen.

Das eigentlich Bemerkenswerte an diesem inoffiziellen Strang der Arbeiten von Parsons ist freilich, dass er darin beinah unmerklich genötigt wird, sein eher harmonistisches Bild der modernen Gesellschaft durch eine stärkere Berücksichtigung sozial anhaltender Konflikte zu korrigieren. Vor allem der 1949 veröffentlichte Aufsatz zum Marxschen Theorem des Klassenkampfes (Parsons 1964c) gibt gut zu erkennen, wie sich bei ihm zugleich mit der wachsenden Aufmerksamkeit für die Anerkennungsbedürftigkeit der Gesellschaftsmitglieder auch das Gespür für die Konfliktanfälligkeit gesellschaftlicher Subsysteme vergrößert: Diese müssen nach der Auffassung Parsons nun, so hatten wir gesehen, in ihren sozial integrierenden Normen immer auch Standards enthalten, aufgrund derer die Mitglieder sich wechselseitig Achtung und Anerkennung zollen können; solche Bewertungsmaßstäbe sind freilich nur in seltenen Fällen so überparteilich und gewissermaßen neutral formuliert, dass sie auf Dauer vor Zweifeln und kritischen Rückfragen der Beteiligten gefeit sind; sobald derartige Stimmungen der normativen Verunsicherung aber in Gefühle der moralischen Empörung umschlagen, können jederzeit leicht soziale Konflikte in Gang kommen, in denen die bislang durch die herrschenden Bewertungsmaßstäbe Benachteilig­ten eine für sie vorteilhaftere Deutung der zugrunde liegenden Normen zu erstreiten versuchen. Insofern wird für Parsons in dem Augenblick, in dem er als motivationale Quelle aller Bereitschaft zur Rollenübernahme das individuelle Streben nach Anerkennung ausmacht, der Konflikt zu einem endemischen Bestandteil jeder normativ institutionalisierten Handlungssphäre. Damit will ich gewiss nicht sagen, dass sich der Systemtheoretiker Parsons am Rande seiner offiziellen Theorie bereits zur Einsicht in die sphärenspezifische Dynamik eines Kampfes um Anerkennung durchgerungen hat; aber viele seiner materialen Überlegungen und Bemerkungen weisen doch immerhin in eine Richtung, an deren Ende die Überzeugung steht, dass in keiner normativ integrierten Handlungssphäre der soziale Konflikt je stillzustellen wäre, da sich deren Mitgliedern immer neue Anlässe zu einer verbesserten, gerechteren Interpretation der Anerkennungsnormen eröffnen.

Wenn wir uns an diesen weniger bekannten, peripheren Strang der Systemtheorie Parsons halten, so haben wir in ersten Bruchstücken die soziologische Version einer an Hegel orientierten Anerkennungstheorie vor Augen. Den Ausgangspunkt einer solchen, im Begriff der Anerkennung fundierten Gesellschaftsanalyse bildet die Vorstellung, dass die Mitglieder einer Gesellschaft nur dann die Motive zur Erfüllung sozial erforderlicher Aufgaben und Verantwortlichkeiten aufbringen werden, wenn ihnen die Befolgung der entsprechenden Handlungsnormen zugleich eine Befriedigung ihrer Selbstachtung in Aussicht stellt; daher müssen alle gesellschaftlichen Funktionsbereiche die übergreifenden, allgemein akzeptierten Werte in einer Weise normativ verkörpern, die es den Mitgliedern wechselseitig erlaubt, sich bei zufriedenstellender Pflichterfüllung im Lichte von etablierten Standards Anerkennung und Achtung zu schenken. Einen Anlass für soziale Konflikte bieten solche institutionalisierten, funktional spezialisierten Anerkennungssphären nun immer dann, wenn einige der Beteiligten Gründe für die Vermutung zu erkennen glauben, dass jene normativen Standards ihre eigenen Beiträge benachteiligen oder ihnen überhaupt keine Chance zum Achtungserwerb vermitteln; in derartigen Fällen muss sich, wie Parsons sagt, eine Art von »moralischer Empörung« breitmachen, die auf der Enttäuschung darüber beruht, dass das dem entsprechenden Handlungssystem innewohnende Anerkennungsversprechen gesellschaftlich verletzt wurde (Parsons 1964b: 144). Die Folge der daraus resultierenden Gegenwehr ist ein sozialer Konflikt, der sich ganz im Sinne Hegels als ein Kampf um Anerkennung interpretieren lässt.

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