Demenz - Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen

Demenz - Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen

von: Tom Kitwood

Hogrefe AG, 2019

ISBN: 9783456960043

Sprache: Deutsch

337 Seiten, Download: 5760 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Demenz - Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen



6. Das Erleben von Demenz

Eines der ermutigendsten Zeichen in den vergangenen Jahren ist, dass Menschen mit Demenz zumindest echte Subjektivität zugebilligt wird. In sehr kurzer Zeit wurde ein beträchtlicher Fortschritt erzielt, und das bereits gewonnene Wissen birgt das Potential einer großen Bereicherung der Versorgungspraxis.

Den größeren Teil der Zeit, in der es Demenz als klinische Kategorie gab, wurde der Subjektivität der Betroffenen nahezu keinerlei Beachtung geschenkt. In Großbritannien war dies einer der wichtigen Punkte im Programm von Alison Frogatt [1988], jedoch fand ihr Pionierunternehmen nicht besonders viele Nachahmer. Wie aus einer Übersicht jüngeren Datums hervorgeht, wurde Arbeit wie die damals auf diesem Gebiet geleistete meist mit Menschen durchgeführt, die kognitiv nur leicht beeinträchtigt waren [Keady, 1996]. Selbst in mehreren seit 1990 erschienenen bedeutenden Lehrbüchern der Psychiatrie und der klinischen Psychologie wird dieses Thema überhaupt nicht erwähnt. Warum es diese Lücke geben sollte, erscheint zunächst einmal mysteriös, vor allem im Hinblick darauf, dass dem Erleben anderer belastender Erkrankungen zumindest eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Ist es, weil von Menschen mit Demenz angenommen wird, sie würden keine Erfahrungen machen? Ist es, weil ihre Bedürfnisse durch die Bedürfnisse der Betreuenden verdrängt wurden? Ist es, weil ihre subjektive Welt als derart ungeordnet angesehen wurde, daß sie nicht auf rationale Weise diskutiert werden konnte? Ist es, weil sie nicht länger als Personen geachtet wurden und daher auch ihre Gedanken und Gefühle keiner Würdigung mehr wert waren? Welche Begründung auch immer für diese Flucht vor dem intersubjektiven Engagement angegeben wird, sie trägt das Mal eines aus Furcht geborenen Rationalisierens (s. Kap. 2.4).

In diesem Kapitel werden wir einiges aus der einschlägigen Forschung betrachten, und ich werde eine Reihe eigener Beobachtungen anfügen. Es ist möglich, einen ungefähren Leitfaden durch die dunkleren Bereiche des subjektiven Erlebens und Erfahrens von Demenz zu erstellen, und es lassen sich sogar ein paar Hinweise auf ihre leichtere Seite gewinnen. An das gesamte Thema sollte mit großer Sensibilität in bezug auf methodologische Anliegen herangegangen werden. Es ist nämlich von entscheidender Bedeutung, zu erkennen, dass dem Ausmaß gegenseitigen Verständnisses von Menschen in jedem Fall – ob mit oder ohne Beeinträchtigung der Geisteskräfte – Grenzen gesetzt sind.

6.1 Intersubjektivität und ihre Grenzen

Im Alltag haben wir oft den Eindruck, etwas von dem, was eine andere Person denkt oder fühlt, spüren zu können, und es gibt Gründe zu der Annahme, dass diese Erfahrung in der Realität begründet ist. Mit Ausnahme sehr geringer Unterschiede sind alle Menschen von gleicher genetischer Bauart, und da wir alle im Zentralnervensystem über die gleichen Komponenten verfügen, ist es sinnvoll anzunehmen, dass wir Informationen aus dem äußeren und inneren Umfeld im wesentlichen auf die gleiche Weise verarbeiten. Ein gewisser Grad an Intersubjektivität wird durch eine gemeinsame Sprache garantiert. Noch bedeutsamer ist die Körpersprache: Ausdruck, Gestik, Haltung, Nähe usw. Dies vermittelt Emotion und Gefühl mit hoher Authentizität, und hier nähern wir uns transkulturellen Universalitäten.

Es ist jedoch unmöglich, zur Gänze in die Erfahrens- und Erlebenswelt eines anderen Menschen zu gelangen, einfach deshalb, weil jede Person einzigartig ist. In Bezug auf Demenz gibt es noch zusätzliche Probleme, die jedoch selbst in jüngeren Arbeiten wenn überhaupt, dann nur selten gewürdigt wurden. Niemand ist bislang von dieser besonderen Reise kognitiver Beeinträchtigung zurückgekehrt, um uns zu sagen, wie es ist. Wir sind weit mehr auf Schlussfolgerungen angewiesen, als in den meisten Unternehmungen auf dem Gebiet der Intersubjektivität.

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