Prinzipienethik in der Biomedizin

Prinzipienethik in der Biomedizin

von: Oliver Rauprich, Florian Steger (Hrsg.)

Campus Verlag, 2005

ISBN: 9783593377063

Sprache: Deutsch

488 Seiten, Download: 19537 KB

 
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Prinzipienethik in der Biomedizin



Soziale, kulturelle und konzeptionelle Konturen der Prinzipienethik (S. 191-193)

Eine soziologische Sicht auf die Entwicklung der Prinzipienethik

John H. Evans

Der Reiz, den die Prinzipienethik auf Bioethiker ausübt, wurzelt in einer westlichen Sicht darauf, wie in öffentlichen Angelegenheiten beraten und entschieden werden soll: Ihre Lösungen sollen so strukturiert und eingegrenzt sein, dass sie auch von jenen nachvollzogen und überprüft werden können, die nicht mit den Umständen des Problems vertraut sind. Diese Auffassung von Beratung, die wiederum von dem westlichen Verständnis von Regierungen unterstützt wird, hat die Ausbreitung der Prinzipienethik von ihrem Ursprung im Bereich der Forschung mit Versuchspersonen auf andere Gebiete des bioethischen Diskurses gefördert.

Die drei Prinzipien des Respekts vor Personen, des Wohltuns und der Gerechtigkeit, die zuerst im Belmont Report aufgestellt wurden, und die vier ähnlichen Prinzipien, die in Beauchamps und Childress’ Principles of Biomedical Ethics veröffentlicht wurden, haben die Urteilsfindung in der Bioethik geprägt (National Commission 1978; Beauchamp/Childress 1989). In diesem Beitrag werde ich mich weder mit der Frage beschäftigen, ob diese Prinzipien richtig sind, noch werde ich sie auf Probleme anwenden. Ich werde auch nicht erläutern, warum bestimmte Prinzipien institutionalisiert wurden und andere nicht. Vielmehr werde ich die Prinzipienethik aus der Perspektive der Soziologie des Wissens untersuchen: Warum ist der Gebrauch einer kleinen Anzahl von Prinzipien – welche das auch sein mögen – in der Bioethik üblich geworden?

Die Soziologie des Wissens geht davon aus, dass Systeme der Entscheidungsfindung wie die Prinzipienethik nicht deshalb einflussreich werden, weil sie »die besten « oder »richtig« wären, sondern vielmehr weil die gesellschaftlichen Bedingungen für die Verfechter eines solchen Systems günstig sind, um die Vertreter konkurrierender Ansätze zu besiegen. So ist beispielsweise die Tatsache, dass eine Idee die »kohärenteste« ist, in dieser Konkurrenz nur dann von Bedeutung, wenn diejenigen, die über die Autorität verfügen, die Berechtigung dieser Ideen zu beurteilen, der Meinung sind, dass »Kohärenz« wichtig ist.

Es ist allgemein anerkannt, dass wir in der Geschichte zurückgehen müssen, um die Vorherrschaft der Prinzipienethik zu verstehen, vielleicht bis zu den Nürnberger Prozessen. Ich bin der Meinung, dass wir viel weiter zurückgehen müssen, um die sozialen Determinanten der Prinzipienethik zu verstehen, nämlich in das Jahr 1494, als das erste Lehrbuch über die doppelte Buchführung geschrieben wurde. Diese Form der Buchhaltung besteht in der tabellarischen Aufstellung, mit der jeder Abteilungsleiter vertraut ist: Was sind unsere Kosten für nächstes Jahr, was unsere Einnahmen? Und spezieller: Bringen die Kosten, die für diesen Geschäftsbereich entstehen, einen Ertrag ein, der sie rechtfertigt? Dieser Vorgang wird für so selbstverständlich gehalten, dass es schwer ist, sich eine Alternative vorzustellen. Aber vor der Erfindung dieses Systems war wirtschaftliche Buchführung im Grunde eine »zusammenhanglose Geschichte mit Zahlen«, die dazu diente, »das Gedächtnis des Geschäftsmannes zu stützen«, aber nicht half, die Handlungen eines Geschäftsmannes zu beurteilen (Carruther/Espeland 1991: 40). Zum Beispiel stand in einer Aufzeichnung aus dem England des frühen 14. Jahrhunderts geschrieben:

»Eintrag über Maurice Hunter und Fynlay Sutor, Verwalter aus der freien Stadt Stivelyn, erstellt in Dunbretan am fünfundzwanzigsten Tage des Januars, (…) über den Pachtzins der genannten Stadt für die zwei Halbjahre dieser Aufzeichnung. Sie belasten sich selbst mit 36 Pfund, die sie wegen des Pachtzinses der genannten Stadt für ihr Rechnungsjahr erhalten haben. Wovon für ihre Ausstände der vorherigen Rechnung 40 Schilling, 1 Pence Halfpenny sind. Und für die Abgaben an den Abt von Cambuskyneth und Dunfermelyn (…) während ihres Rechnungsjahres 23 Pfund, 5 Schilling, 4 Pence. Und an die Mönchsprediger zu Stivelyn (…)« (Carruther/Espeland 1991: 40).

Die doppelte Buchführung war eine bedeutende Innovation in der Geschichte der Wirtschaft. Zwei Veränderungen machten das Buchhaltungssystem zu einem Verfahren, das eine Berechenbarkeit, Effizienz und Voraussagbarkeit menschlicher Handlungen ermöglichte und so dem modernen Kapitalismus den Weg ebnete. Erstens stellte das neue System ein Mittel zur Abstreifung (discarding) von Informationen dar, die für die Urteilsfindung belanglos erschienen. Ist es wirklich wichtig für die Gewinnrechnung, dass Hunter und Sutor in der freien Stadt Stivelyn leben? Das könnte man in ein Adressbuch eintragen. Die neue Buchhaltung enthielt lediglich Zahlen, alle anderen Informationen wurden entfernt.

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