Die Europäische Union auf dem Weg in den Verfassungsstaat

Die Europäische Union auf dem Weg in den Verfassungsstaat

von: Berthold Rittberger, Frank Schimmelfennig (Hg.)

Campus Verlag, 2006

ISBN: 9783593381817

Sprache: Deutsch

323 Seiten, Download: 1447 KB

 
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Die Europäische Union auf dem Weg in den Verfassungsstaat



Das Rätsel der Konstitutionalisierung Wie aus der Europäischen Union ein Verfassungsstaat wurde (S.15)

Berthold Rittberger und Frank Schimmelfennig

Der Begriff der Konstitutionalisierung ist nicht erst seit der jüngsten Diskussion über eine europäische Verfassung zu einem der Schlagwörter in der Literatur zur europäischen Integrationsforschung avanciert. Meist findet der Begriff der Konstitutionalisierung im Zusammenhang mit dem Prozess der Rechtsintegration in der EU Verwendung.

Dieser Prozess ist dadurch gekennzeichnet, dass im Laufe der vergangenen Jahrzehnte das europäische Gemeinschaftsrecht eine Qualität erlangt hat, die mitunter als »quasi-föderal« umschrieben wird (Haltern 2005: 260). Dem Gemeinschaftsrecht wird somit nicht nur attestiert, »Bestandteil der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen« geworden zu sein, sondern auch innerhalb der nationalen Rechtsordnungen als normenhierarchisch höher angesiedeltes Recht zu fungieren (Haltern 2005: 260).

Gemeinschaftsrecht ist demnach nicht mehr ›nur‹ Völkerrecht, sondern eine Rechtsordnung mit Verfassungsqualität, die weit in nationale Rechtssysteme hineinwirkt (Weiler 1999, Stone Sweet 2000). Politikwissenschaftler und Rechtswissenschaftler haben sich mit diesem Phänomen extensiv auseinandergesetzt und es unter Rückgriff auf unterschiedliche Integrationstheorien – zu nennen wären insbesondere intergouvernementalistische und supranationalistische Ansätze – zu erklären versucht.

In der jüngsten Vergangenheit ist eine Ausweitung des Konzepts der Konstitutionalisierung in der wissenschaftlichen Debatte zu beobachten: Konstitutionalisierung beschränkt sich demnach nicht allein auf das Phänomen der Rechtsintegration, sondern umfasst all diejenigen Prozesse, die der Rechtsordnung der EU Verfassungsqualität zuweisen (Snyder 2003).

Es existiert ein grundlegender normativer Konsens darüber, dass die Verfassung eines liberal-demokratischen Staates sich an folgenden Prinzipien orientieren sollte: Garantie und Sicherung von Grundrechten, Verhinderung von Machtmissbrauch durch Gewaltenteilung sowie – in der Regel – die Repräsentation der Bürger durch gewählte Parlamente (Wiener 2005).

Wird Konstitutionalisierung in diesem erweiterten Sinne gefasst, lassen sich unter dem Begriff unter anderem Arbeiten zur Institutionalisierung von Grundrechten in den Gemeinschaftsvertrag subsumieren, wie beispielsweise der Fall der Grundrechte-Charta (Sadurski 2003) oder die Ausbildung einer Parteiendemokratie auf europäischer Ebene (Day und Shaw 2003).

Die Beiträge in diesem Band gehen von einem solchen erweiterten Begriffsverständnis aus und richten ihr Augenmerk insbesondere auf zwei Prozesse der Konstitutionalisierung: der Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments (Parlamentarisierung) und der Institutionalisierung von Menschenrechten auf der europäischen Ebene.

Die Parlamentarisierung und Institutionalisierung von Menschenrechten stellen Konstitutionalisierungsprozesse dar, die für die Entwicklung des modernen liberal-demokratischen Verfassungsstaats grundlegend sind. Die Beiträge zu diesem Band zeigen eindrücklich, dass diese Konstitutionalisierungsprozesse allerdings nicht auf den national organisierten Verfassungsstaat beschränkt sind. In der EU hat das Europäische Parlament in den vergangenen fünfzig Jahren eine eindrucksvolle Entwicklung durchlaufen (siehe Rittberger 2005).

Während die Gemeinsame Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegenüber der Hohen Behörde ausschließlich eine Kontrollbefugnis innehatte, ist das Europäische Parlament mittlerweile zu einem direkt gewählten »Ko-Gesetzgeber « (Tsebelis und Garrett 2000) aufgestiegen, der in einer Vielzahl an Politikbereichen im Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft auf gleicher Augenhöhe mit dem Rat verhandelt.

Während in den Gründungsverträgen noch kein gemeinschaftlicher Grundrechtsschutz verankert war, hat der Europäische Gerichtshof seit den sechziger Jahren in seiner Rechtsprechung regelmäßig Grundrechtsbezüge hergestellt (Stone Sweet 2000).

Die Institutionalisierung von Grundrechten auf der EU-Ebene hat durch die Verabschiedung der Grundrechte-Charta im Jahr 2000 und deren Integration in den Verfassungsvertrag – trotz dessen Scheiterns – jüngst einen Höhepunkt erlebt.

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