Soziale Gerechtigkeit - Was unsere Gesellschaft aus den Erkenntnissen der Gerechtigkeitspsychologie lernen kann

Soziale Gerechtigkeit - Was unsere Gesellschaft aus den Erkenntnissen der Gerechtigkeitspsychologie lernen kann

von: Mario Gollwitzer, Sebastian Lotz, Thomas Schlösser, Bernhard Streicher

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783840925351

Sprache: Deutsch

210 Seiten, Download: 5179 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Soziale Gerechtigkeit - Was unsere Gesellschaft aus den Erkenntnissen der Gerechtigkeitspsychologie lernen kann



2.2 Theorien distributiver Gerechtigkeit

Eine der grundlegenden Theorien distributiver Gerechtigkeit ist die Equity-Theorie (Adams, 1965). Während diese Theorie eigentlich entwickelt wurde, um im beruflichen Kontext die Zufriedenheit mit Lohnund Gehaltszahlungen zu verstehen (Walster, Walster & Berscheid, 1978), fand die Equity-Theorie schnell eine breitere Anwendung.

Equity-Theorie: Die Theorie besagt, dass Menschen die Ergebnisse von Verteilungen daran bemessen, ob das Verhältnis von Leistung bzw. Aufwand auf der einen Seite und Ertrag (im weiteren Sinne) auf der anderen Seite sozial gerecht ist, d.h. bei unterschiedlichen Personen gleich ist. Sie vergleichen also ihr eigenes „Leistungs-Ertrags-Verhältnis“ mit dem anderer Personen (z.B. ihrer Arbeitskollegen).

Arbeiten beispielsweise zwei Menschen in der gleichen Firma, so sollten sich ihre Entlohnungen danach richten, wie viel beide relativ zum Gesamterfolg dieser Firma beigetragen haben. Hierbei ist nicht die objektive Bewertung von Leistungen und Erträgen von Bedeutung, sondern vielmehr die subjektiv wahrgenommene Relation von beidem – Gerechtigkeit liegt also auch hier im Auge des Betrachters (Tyler & Smith, 1998).

Gemäß der Equity-Theorie sind sowohl positive wie negative Abweichungen von einem als gerecht angesehenen Verhältnis (zwischen Leistung und Ertrag) problematisch. Ist der Ertrag bei gleicher Leistung schlechter als bei anderen Personen, reagiert die Person mit Ärger; ist der Ertrag bei gleicher Leistung besser, entstehen Schuldgefühle (Adams, 1965). Da Menschen bemüht sind, solche Spannungszustände zu reduzieren (Festinger, 1957), reagieren sie auf die Verletzung der Bedingungen distributiver Gerechtigkeit mit dem Bemühen, Gerechtigkeit wiederherzustellen. Studien zeigen, dass Unterprivilegierte versuchen, in Zukunft weniger beizutragen, damit die individuelle Relation zwischen Leistung und Ertrag wieder hergestellt ist. Überprivilegierte reagieren hingegen mit verstärkter Anstrengung, um ihren überproportionalen Verdienst zu rechtfertigen (Greenberg, 1982). Insbesondere dieser Befund ist interessant, stellt er doch in Frage, dass Menschen grundsätzlich nach der Maximierung ihres eigenen Nutzens oder der Minimierung des eigenen Aufwandes streben.

Dieses Ergebnis war auch innerhalb der Wirtschaftswissenschaft sehr einflussreich. Denn auch im ökonomischen Kontext lässt sich erkennen, dass Menschen als Reaktion auf überproportionale Zahlungen ein erhöhtes Maß an Anstrengung zeigen (Akerlof, 1982; Fehr, Kirchsteiger & Riedl, 1998). Die Equity-Theorie argumentiert, dass sich dieser Effekt aufgrund des menschlichen Bedürfnisses, Gerechtigkeit wieder herzustellen, erklären lässt und Reziprozität somit vor allem dem Ziel dient, eine Ungerechtigkeit und damit verbundene Emotionen wie Schuld zu vermeiden.

Eine wichtige Weiterentwicklung der Equity-Theorie als Theorie der distributiven Gerechtigkeit erfolgte durch Morton Deutsch (1975). Im Gegensatz zu der einfachen Regel einer Korrespondenz zwischen Leistung und Ertrag argumentierte Deutsch, dass Menschen zwar grundsätzlich nach distributiver Gerechtigkeit streben, dass diese distributive Gerechtigkeit jedoch unterschiedlichen Prinzipien folgen könne. Während die EquityTheorie von einer Verteilung nach Leistung ausgeht, machte Deutsch deutlich, dass man Ressourcen auch nach den Prinzipien Gleichheit und Bedürfnis verteilen könne. Welches Prinzip nun am ehesten als gerecht angesehen wird, richtet sich Deutsch zufolge danach, in welcher sozialen Beziehung die betreffenden Individuen zueinander stehen, und durch welches Ziel diese Beziehung charakterisiert ist. Die Anwendung der drei genannten Prinzipien ist unter anderem vom Kontext abhängig: Leistung wird bevorzugt in kooperativen Beziehungen ökonomischer Produktivität angewandt, Gleichheit bei der Aufrechterhaltung angenehmer sozialer Beziehungen und Bedürfnis bei kooperativen Beziehungen der persönlichen Entwicklung oder des persönlichen Wohlergehens.

Distributive Gerechtigkeit kann unterschiedlichen Prinzipien folgen (Deutsch, 1975): • Gleichheitsprinzip
• Leistungsprinzip
• Bedürftigkeitsprinzip

Auch hierbei wird deutlich, dass Gerechtigkeitskonflikte dadurch entstehen können, dass unterschiedliche Personen unterschiedliche Prinzipien für angemessen halten und sich die Art der Beziehung (und die Art der Ziele) mit der Zeit verändern können. So ist es beispielsweise vorstellbar, dass Beziehungen im beruflichen Kontext, beispielsweise unter Kollegen, mit der Zeit durch Freundschaft enger werden und hierdurch Konflikte bei der Auswahl der Verteilungsprinzipien entstehen. Auch in sehr engen sozialen Bindungen wie beispielsweise Familien kann es zu Konflikten kommen, wenn ein Partner nach sozialer Harmonie strebt und daher das Gleichheitsprinzip befürwortet, während der andere nach Selbstverwirklichung strebt und das Bedürfnisprinzip für angemessen hält. Eine wichtige Erkenntnis in diesem Zusammenhang war, dass Menschen üblicherweise Kompromisse zwischen den verschiedenen Verteilungsprinzipien machen (Okun, 1975), welche von der individuellen Zielsetzung abhängen. Beispielsweise wählen Sozialstaaten einen Kompromiss aus Bedürfnisprinzip und Leistungsprinzip bei der Gestaltung von Sozialsystemen, um den sozialen Frieden zu erhalten (siehe auch Kapitel 7 von Lotz in diesem Band). Sowohl die Ermöglichung eines angemessenen Lebensstandards (Orientierung am Bedürfnis) als auch ein angemessener Lohnabstand zu der arbeitenden Bevölkerung (Orientierung an Equity) sind bei der Gestaltung von sozialen Transfersystemen, die möglichst vielen Menschen gerecht werden, anzustreben. Die politische Debatte um diese Elemente des Sozialstaats zeigt aber auch, dass politische Einstellungen wesentliche Einflussfaktoren auf die Wahl des Gerechtigkeitsprinzips sind, was auch innerhalb der Gerechtigkeitspsychologie empirisch gezeigt werden konnte (z. B. Skitka & Tetlock, 1992). Denn auch wenn alle Parteien sich grundsätzlich darüber einig sind, dass zwischen verschiedenen Verteilungsprinzipien ein Kompromiss gefunden werden muss, ist die genaue Frage nach der Art dieses Kompromisses regelmäßig ein Grund politischer Streitigkeiten – wie man am Beispiel der Debatte um die konkrete Höhe von staatlichen Transfers sehen kann.

Ein weiterer Konfliktfaktor ist die Wahrnehmung von Individuen. Wie bereits beschrieben, ist nicht die objektive Realität für die Ableitung des Gerechtigkeitsgefühls verantwortlich, sondern vielmehr die subjektiv wahrgenommene Realität. Diese Wahrnehmungen müssen zwischen den Menschen jedoch nicht notwendigerweise korrespondieren (Tyler & Smith, 1998). Aus der allgemeinen Sozialpsychologie sowie der Urteilsund Entscheidungsforschung sind Befunde bekannt, die zeigen, dass die subjektive Wahrnehmung Verzerrungen unterliegt. So lässt sich beispielsweise beobachten, dass Menschen typischerweise ihre eigenen Leistungen im Vergleich zu anderen überbewerten (Ross & Sicoly, 1979). Hinzu kommt, dass in einer bestimmten Handlungsdomäne inkompetente Menschen ihre eigenen Leistungen in eben dieser Domäne überschätzen, während sie die Leistung kompetenter Menschen unterschätzen (Kruger & Dunning, 1999). Konflikte können daher entstehen, da sich Menschen zwar grundsätzlich einig über eine Verteilung gemäß dem Equity-Prinzip sind, die individuellen Beiträge zum Kollektiv jedoch unterschiedlich einschätzen und daraus Ansprüche ableiten. Doch nicht nur die Interpretation von Leistungen und Ansprüchen kann zu Gerechtigkeitskonflikten führen. Vielmehr gilt das Prinzip der Equity-Theorie nicht immer allein die Maxime der Verteilungsgerechtigkeit; es kommen daher grundsätzlich auch andere Verteilungsregeln in Betracht.

Daraus wird auch deutlich, dass eine einfache Orientierung an Verteilungsmaßstäben nicht ausreicht, um ein psychologisch fundiertes Modell über Gerechtigkeit zu entwickeln. Oft genug sind nämlich nicht Verteilungen die Ursache von gefühlter Ungerechtigkeit, sondern vielmehr die konkrete Behandlung durch andere.

2.3 Theorie der Verfahrensgerechtigkeit

Neben der Sorge um gerechte Verteilungen interessiert Menschen aber auch die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden. Mit dieser Thematik befassen sich Arbeiten im Bereich der prozeduralen Gerechtigkeit. Die psychologische Forschung erkannte, dass die Verfahren selbst oftmals mindestens genauso wichtig für die Wahrnehmung von Gerechtigkeit sind wie die Ergebnisse, die aus diesen Verfahren folgen (z.B. Messick, Bloom, Boldizar & Samuelson, 1985). Die ersten systematischen Arbeiten im Bereich der prozeduralen Gerechtigkeit stammen von Thibaut und Walker (1975). Hier ging es vor allem um Gerechtigkeitsaspekte bei justiziablen Konflikten (z. B. Gerichtsverfahren, Mediationsverfahren, Schiedsverfahren). Thibaut und Walker kamen zu der Erkenntnis, dass Urteile über Gerechtigkeit im Wesentlichen dadurch beeinflusst waren, welches Verfahren jeweils angewendet wurde. Urteile über prozedurale Gerechtigkeit beeinflussen daher auch Urteile über andere Fragen, zum Beispiel in der Sozialpolitik (Nacoste, 1990) oder Bewertungen über die Gerechtigkeit von Autoritäten, Institutionen oder Regelwerken (Tyler & Lind, 1992).

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