Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein

Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein

von: Jürgen Trabant

C.H.Beck, 2006

ISBN: 9783406541094

Sprache: Deutsch

357 Seiten, Download: 2146 KB

 
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Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein



2. Florenz Poetische Welt-Sprache und neue Grammatik des Paradieses (S. 54)

2.1. Vulgaris eloquentia: Volkssprache vs. Muttersprache

Cum neminem ante nos de vulgaris eloquentie doctrina quicquam inveniamus tractasse, […] locutioni vulgarium gentium prodesse temptabimus. (I i 1) Da wir niemanden finden, der vor uns eine Lehre von der vulgaris eloquentia behandelt hat […], werden wir versuchen, etwas Nützliches über das Sprechen der Leute aus dem Volk zu sagen.

Poetische Welt-Sprache und neue Grammatik des Paradieses Vulgaris eloquentia: Volkssprache vs. Muttersprache Mit diesem berühmten, sehr selbstsicheren Satz beginnt Dantes kurz nach 1300 geschriebener Traktat, dessen Titel traditionellerweise aus diesem ersten Satz entlehnt wird: De vulgari eloquentia. Aber was genau ist der neue Gegenstand, also worüber genau hat vor Dante niemand eine Lehre, eine doctrina, gehabt, was ist vulgaris eloquentia?

Die deutsche Übersetzung von Dornseiff und Balogh aus dem Jahre 1925 gibt der Danteschen Schrift den pathetischen Titel: «Über das Dichten in der Muttersprache». Das ist höchst mißverständlich und problematisch. Eine Kritik dieses Titels, unter dem der Text in Deutschland Verbreitung gefunden hat, soll uns Klarheit über den Gegenstand der Danteschen Schrift verschaffen.

2.1.1. Der deutsche Titel ist zunächst eine extreme Eingemeindung.

Er ruft Dantes Schrift vom Beginn des Trecento hinein in einen modernen Diskurs, nämlich in die Art und Weise, wie in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts Sprache thematisiert wurde. Natürlich geht es dem Dichter Dante in seiner Schrift um das «Dichten».

Es geht um die Rechtfertigung einer bestimmten literarischen Praxis, und zwar gerade um das Schreiben «hoher» Lyrik, die auch als poesis auftritt (II iv 2), um eine Tätigkeit, die in der Tat auch als poetari bezeichnet wird, um Akteure, die – wenn auch mit einiger Vorsicht («richtige Dichter», poetae regulares, II iv 3, sind die klassischen lateinischen Dichter) – durchaus auch poetae sind (II iv 2). Die poetae, die Dante auch «vulgares eloquentes», «avientes», «versificatores», «versificantes» nennt, sind aber für Dante vor allem: Gelehrte, doctores.

Dies ist der Terminus, den Dante meistens verwendet. Schon deswegen ist das Wort «dichten» mit seinen modernen Konnotationen problematisch. Das Dichten, von dem hier die Rede ist, verdankt sich auf keinen Fall einem romantischen Raptus, sturmdurchpeitschten Nächten auf kahlen Bergen und gefühlstrunkenen Liebesbegegnungen, sondern der Gelehrsamkeit. Für doctores schreibt Dante eine doctrina.

Vor allem aber spricht gegen das Wort «Dichten» im Titel der Abhandlung, daß Dante – ebenso wie in einem berühmten Satz aus seinem Convivio, in dem er auf De vulgari eloquentia referiert (Conv. I v 10) – eben das Wort eloquentia benutzt, wenn er vom Gegenstand seiner Abhandlung spricht. Eloquentia geht allemal über das «Dichten» hinaus. Eloquentia ist nicht auf literarische Texte, gar auf das Verfassen metrisierter Texte beschränkt (an das man beim «Dichten» ja vor allem denkt), sondern meint jede kunstvolle Sprachproduktion. Eloquentia ist das, was die Rhetorik, die Kunst der Rede, in Regeln faßt.

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