Kritik der Hirnforschung - Neurophysiologie und Willensfreiheit

Kritik der Hirnforschung - Neurophysiologie und Willensfreiheit

von: Christine Zunke

De Gruyter Akademie Forschung, 2008

ISBN: 9783050045016

Sprache: Deutsch

222 Seiten, Download: 1206 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Kritik der Hirnforschung - Neurophysiologie und Willensfreiheit



5. Der Wille als Gefühl (S. 68-69)
Zur Architektonik einer funktionalen Lüge
Eine kritische Analyse der Äußerungen Gerhard Roths über die Bedeutung der Gefühle des Menschen für die Verhaltenssteuerung kann die gesellschaftspolitischen Implikationen der Darstellung von Forschungsresultaten aus der modernen Hirnforschung stärker beleuchten. Wird der Wille nicht (auch) als Vernunftvermögen, sondern ausschließlich als ein Affekt des Begehrens verstanden, liegt alle Moralität nicht im Einzelnen, sondern – wenn überhaupt – in der Art der gesellschaftlichen Organisation und ist damit dem einzelnen Menschen und seinem Wollen äußerlich. Der anscheinende Konflikt zwischen Gefühl und Vernunft wird aus dem einzelnen Bewusstsein heraus verlagert in das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und den an ihn gerichteten gesellschaftlichen Anforderungen. Dass letztere ,vernünftig‘ seien und das Primat gegenüber den Begehrungen des Einzelnen haben sollen, kann dabei jedoch nicht durch die menschliche Vernunft begründet sein, sondern nur durch die menschliche Natur, die ihren überindividuellen Ausdruck in der Art der Organisation der Gesellschaft finden soll. Zu einer Organisation von Zwecken, die auf die Verwertung des Wertes gerichtet sind, passt die Annahme der Unfreiheit des Einzelnen, weil jene Verwertung ihn als bloßes Mittel braucht. Der von der Hirnforschung wissenschaftlich unterfütterte Glaube an eine natürliche Unfreiheit affirmiert so einen gesellschaftlichen Zustand der Unfreiheit.

Hirnforschung erklärt die menschliche Natur (als) der kapitalistischen Produktionsweise gemäß
Die Annahme, der Mensch habe keinen freien Willen, hat, unabhängig von den persönlichen politischen Haltungen der Hirnforscher selbst, einen gesellschaftspolitischen Gehalt. Aber dieser Gehalt wird in den Veröffentlichungen zum Thema oft nicht direkt ausgesprochen, etwa dann nicht, wenn die politischen Äußerungen mit der dargelegten Theorie im Widerspruch stehen, wie es im vorigen Kapitel bei Wolf Singer gezeigt wurde. Um zwischen Populismus, Provokation und den tatsäch- lichen gesellschaftspolitischen Implikationen des cerebral fokussierten Bildes vom Menschen ohne Freiheit zu unterscheiden ist es wichtig, zu trennen zwischen bloßen Meinungen einerseits und andererseits Thesen, die inhaltlich aus der Annahme es gebe keinen freien Willen direkt folgen. Dass das nicht immer leicht ist, weil die verschiedenen Aspekte sich oft überschneiden und vermischen, soll an folgendem Satz von Gerhard Roth exemplarisch gezeigt werden: „Die gesellschaftliche Natur des Menschen ergibt sich aus seiner (neuro)biologischen Natur und nicht umgekehrt, und deshalb ist die gesellschaftliche Natur des Menschen ohne die (neuro)biologische nicht verständlich."

Dieser Satz findet sich im Buch Fühlen, Denken, Handeln von Roth nicht nur im Text, sondern ist zudem als Klappentext für die Taschenbuchausgabe gewählt. Daher erscheint es als zulässig, ihn hier auf die Goldwaage zu legen. Der erste Teil: „Die gesellschaftliche Natur des Menschen ergibt sich aus seiner (neuro)biologischen Natur" ist die provokative These, die Roth in seinem Buch belegen will. „[...] ergibt sich aus" bezeichnet einen z u r e i c h e n d e n Grund. Das bedeutet, dass die Art und Weise, in der Menschen sich in Gesellschaften organisieren, vollständig aus der (neuro-) biologischen Natur des Menschen zu erklären und so die Gesellschaft in allen Ausformungen durch diese Natur determiniert sei „[...] und nicht umgekehrt". Umgekehrt würde bedeuten: Die (neuro)biologische Natur des Menschen ergebe sich aus seiner gesellschaftlichen Natur. Diese Umkehrung ist schon deshalb unsinnig, weil man eine gesellschaftliche Natur annehmen müsste, die v o r der biologischen bestünde, da letztere von ihr abgeleitet wäre.

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