Zwischen Institutionalisierung und Abwehrkampf - Internationale Gewerkschaftspolitik im Prozess der europäischen Integration

Zwischen Institutionalisierung und Abwehrkampf - Internationale Gewerkschaftspolitik im Prozess der europäischen Integration

von: Johannes Kiess, Martin Seeliger

Campus Verlag, 2018

ISBN: 9783593439976

Sprache: Deutsch

278 Seiten, Download: 2927 KB

 
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Zwischen Institutionalisierung und Abwehrkampf - Internationale Gewerkschaftspolitik im Prozess der europäischen Integration



Zwischen Institutionenbildung und Abwehrkampf: Internationale Gewerkschaftspolitik im Prozess der europäischen Integration Johannes Kiess und Martin Seeliger 1. Einleitung Welche Rolle spielen die Gewerkschaften im Prozess der europäischen Integration? Zehn Jahre nachdem der Europäische Gerichtshof mit seiner Rechtsprechung zur Dienstleistungsfreiheit mit dem legislativ institutionalisierten Streikrecht ein grundlegendes Element des ?Sozialen Rechtsstaats? in Frage gestellt (Höpner 2013) und die Krise der globalen Finanzmärkte die sogenannten ?Schuldenstaaten? - und damit weite Teile der südeuropäischen Lohnabhängigen - in die regierungsverordnete Austerität gedrängt hat, stellt sich die von Deppe (2012) nach den ?Gewerkschaften in der großen Transformation? aufgeworfene Frage mit anhaltender politischer Brisanz. Die Eingliederung von immer mehr europäischen Ländern in einen institutionell immer weiter zu vertiefenden gemeinsamen Markt hat von jeher die zentrale Dynamik der europäischen Integration ausgemacht. Wie gerade die Währungsunion gezeigt hat, bedingt die Stärkung ökonomischer Interdependenz zwischen den Ländern allerdings keineswegs jene soziale Kohäsion, von der Sozialwissenschaftler meinen, dass sie für die Gewährleistung eines einigermaßen gerechten Zusammenlebens unverzichtbar ist (Polanyi 1957). In anderen Worten, jene ?soziale Dimension? (siehe Fetzer in diesem Band), die vor allem mit dem ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors verbunden wird, entsteht nicht einfach als ?spill-over? (vgl. Haas 1958; Rosamond 2005) aus der fortschreitenden institutionellen und ökonomischen Integration. Vielmehr ist ihr (Nicht-)Entstehen abhängig von Kräfteverhältnissen im politischen Mehrebenensystem der Europäischen Union (Pierson/Leibfried 1998; Börzel 2008; Fehmel 2015). Während die Integration eines gemeinsamen Arbeitsmarktes unter neo-klassischen Gesichtspunkten zunächst eine effizientere Arbeitsteilung und so effektivere Produktionsmöglichkeiten bietet (Smith 1904), bedarf es unter kapitalistischen Umständen einer kollektiven Instanz zur Vertretung von Lohnabhängigeninteressen um die von Polanyi angesprochene gesellschaftliche Integration zu flankieren. Unter den gegebenen Bedingungen sehen wir eine solche Instanz nach wie vor am ehesten in den Gewerkschaften. Den Herausforderungen, denen sich diese im Prozess der fortschreitenden Integration ausgesetzt sehen, widmet sich der vorliegende Band. Die Vertiefung der europäischen Integration hat durch den Abbau nationaler Tarif- und Handelsbarrieren sowie die makroökonomische Kennzahlensteuerung der Wirtschafts- und Währungsunion in den Euroländern verschiedene Mechanismen institutionalisiert, die einer internen systematischen Regimekonkurrenz mit Blick auf die nationalen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen Vorschub leisten. Ein zentrales Defizit der europäischen Integration liegt darin, dass eine solche 'negative Integration' (Scharpf 1999) nicht ausreichend durch Maßnahmen einer 'positiven Integration', das heißt einer Einrichtung entsprechender Regulierungsinstanzen in der Sozialpolitik auf EU-Ebene, ergänzt wird. Bei fortschreitender Integration des europäischen Binnenmarktes müssten sich Maßnahmen einer europäisch ausgerichteten Gewerkschaftspolitik auf die Erhaltung oder den Ausbau nationaler Arbeits- und Beschäftigungsstandards sowie deren Ergänzung, Verteidigung und Flankierung auf europäischer Ebene richten. Die größte Herausforderung hierbei ergibt sich für die nationalen Gewerkschaftsorganisationen aus der Notwendigkeit, für die Einflussnahme auf den Integrationsverlauf eine gemeinsame politische Linie zu formulieren (dazu Seeliger 2017). Vor allem vor dem Hintergrund der Erweiterungsrunden der Jahre 2004 und 2007 identifizieren wir für die Etablierung gemeinsamer Positionen im Feld der europäischen Gewerkschaftspolitik ein dreifaches Heterogenitätsproblem: Einerseits unterscheiden sich die Länder der EU mit Blick auf institutionelle Gegebenheiten wie Arbeitsrecht oder nationale Modi der Lohnfindung. Zweitens bestimmen auch auf der Ebene der einzelnen Organisationen nationale Entwicklungspfade die Struktur und den Umfang der jeweiligen Gewerkschaftsbewegungen, sowie deren ideologische Orientierung. Drittens schließlich unterscheiden sich die nationalen Gewerkschaftsbewegungen bezüglich ihrer Machtressourcen, wobei west- und nordeuropäische Gewerkschaften im Vorteil sind. Die Entwicklung gemeinsamer politischer Positionen erfolgt unter Bedingungen von Unterschiedlichkeit innerhalb dieser drei Dimensionen. Gemeinsame Positionen werden bei fortschreitendem Integrationsprozess für europäische Gewerkschaften nicht nur wichtiger, sondern auch schwieriger zu etablieren. 'Hard times may result in strategic paralysis, but can also stimulate the framing of new objectives, new levels of intervention, and new forms of action' (Gumbrell-McCormick/Hyman 2013: 192) - prägnanter lassen sich Stand und Perspektiven europäischer Gewerkschaftspolitik unter Bedingungen der aktuellen Krise der Europäischen Union kaum auf den Punkt bringen. Denn wenn wir uns Zürn (2013: 413) zufolge mit der seit Jahren andauernden Eurokrise 'inmitten eines ergebnisoffenen Prozesses der Politisierung der EU' befinden, so betrifft diese Diagnose - so wollen wir selbst argumentieren - nicht nur auch, sondern vor allem die Gewerkschaften als Interessenorganisationen der europäischen Lohnabhängigen. Wie die aktuelle Diskussion zeigt, variieren die Einschätzungen darüber, welche Rolle die europäischen Gewerkschaften innerhalb dieser Konstellation ganz grundsätzlich einzunehmen in der Lage sind, sogar unter den profiliertesten Vertretern einer politischen Soziologie der Arbeitsbeziehungen. Während etwa Jelle Visser (2012: 130) es für wahrscheinlicher hält, dass '21st century capitalism will be shaken up by banks rather than by trade unions', sieht das Forscherteam um Klaus Dörre (Dörre et al. 2016) in den Tarifauseinandersetzungen des Streikjahres 2015 'Rückenwind' für eine gewerkschaftliche Erneuerung. Zur Debatte steht nicht zuletzt, ob Gewerkschaften erstens in der Lage sind, als Agenten einer sozialen Integration auf der europäischen Ebene aufzutreten, und zweitens, ob dies in ihrem Interesse ist oder sein sollte. Diesen unter den Vertretern der sozialwissenschaftlichen EU-Forschung so unterschiedlich (vgl. für einen Querschnitt der Perspektiven (Rüb/Müller 2016; Seeliger 2017; Streeck 2013) ausfallenden Einschätzungen, die aktuell kaum in einer Synthese unterzubringen sind, widmet sich der vorliegende Band. In dieser Einleitung beschreiben wir den konzeptionellen Rahmen des Sammelbands, das heißt zunächst die spezifische Situation der europäische(n) Gewerkschaftsbewegung(en) im Prozess der europäischen Integration (2). Im darauffolgenden Abschnitt skizzieren wir unterschiedliche Perspektiven der Forschung (3). Dazu unterscheiden wir zwischen optimistischeren und pessimistischeren Beiträgen sowie gleichzeitig zwischen unterschiedlichen theoretischen Perspektiven. Abschließend stellen wir die Beiträge des Sammelbandes kurz vor und heben deren Beitrag zur skizzierten Debatte heraus (4). 2. Institutionenbildung und Abwehrkampf: Die Folgen der europäischen Integration für die Gewerkschaften Mit Blick auf die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Arbeitsbeziehungen im europäischen Kontext monieren Marginsson und Sisson (2004: XVI) einen traditionell stark strukturbetonten Fokus der vorliegenden Arbeiten. Während die Auseinandersetzung mit europäischen Gewerkschaften seit der Jahrtausendwende zwar ein allgemein größeres Augenmerk auf die Handlungspotenziale von Gewerkschaften gerichtet hat, lässt sich für die Analyse der politischen Bedeutung nationaler Gewerkschaftsorganisationen in der Europäischen Union auch heute noch ein stark international vergleichender Blickwinkel ausmachen, der - auf Grund seiner statischen Perspektive auf nationale Gegebenheiten -'Initiativen' vernachlässigt, die 'deutliches Politisierungs- und damit Veränderungspotenzial haben' (Kowalsky 2010: 139). Eine zweite Phase der Gewerkschaftspolitik und -forschung begann 1973 mit der Gründung des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB). Anlässlich der Erweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft um Großbritannien, Dänemark und Irland traten hier 167 Gewerkschaften aus 15 westeuropäischen Ländern (und damit mehr als die damalige Europäischen Gemeinschaften, die ?EG-9?, Mitglieder hatten) der gemeinsamen Organisation bei. Neben deskriptiven (Niethammer 1977) und politikfeldspezifischen Beiträgen (Köpper 1982) finden sich in dieser Phase auch zunehmend weltanschaulich geprägte Publikationen. So verweist etwa Gorz (1974: 224) auf das 'Problem der internationalen Strategie der Arbeiterbewegung angesichts der europäischen Integration.' Zu Beginn der 1990er Jahre markiert die Institutionalisierung des gemeinsamen Marktes den Eintritt in eine Phase, die sich auch mit Blick auf die Gewerkschaften durch eine stärkere europäische Orientierung auszeichnet. Eine neue politische Salienz, die sich unter anderem in höheren Mitgliedsbeiträgen sowie einer Entsendung qualifizierter Sekretäre nach Brüssel widerspiegelt (Schmitter/Streeck 1991: 136f), benennt auch Dolvik (1999: 16): 'Die europäischen Gewerkschaften wollten eine gemeinsame Reaktionsfähigkeit entwickeln und die Spielregeln ändern.' Zu dieser Zeit zeichneten sich im Diskurs um die europäische Integration auch die Konturen eines Konzeptes ab, welches seitdem unter dem Begriff des ?Sozialen Europa? nicht zuletzt als Vehikel politischer Mobilisierung dient. Geprägt durch den damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors beruht die Idee eines europäischen Sozialmodells auf der Annahme, dass Marktintegration die gewünschten wirtschaftlichen Entwicklungsimpulse nur entfalten kann, wenn sie durch die Etablierung sozialpolitischer Absicherungen flankiert wird. Als besondere Errungenschaft dieser Phase betonen sozial-wissenschaftliche Fachvertreter vor allem die Einrichtung des ?Sozialen Dialogs? zwischen den europäischen Sozialpartnern (Weinert 2009). Die Aufbruchsstimmung, die die Etablierung entsprechender arbeitspolitischer Institutionen auf europäischer Ebene zu dieser Zeit auch im Lager der sozialwissenschaftlichen Beobachter erzeugt, spiegelt sich nicht zuletzt in der hoffnungsvollen Diagnose eines 'Eurokorporatismus' (Falckner 1998). Eine neue Phase der europäischen Integration wird so von Rhodes (1998) vor dem Hintergrund einer Reihe ?weicher? arbeits- und sozialpolitischer Regulierung (Antidiskriminierung, Arbeitszeit, etc.) konstatiert. Angesichts der Vertiefung ihrer Kompetenzen im Rahmen der Währungsunion und Marktintegration sowie vor dem Hintergrund der Vergrößerung ihres Umfangs im Rahmen der Erweiterungsrunden seit 2004 lässt sich der Zeitraum der letzten zwanzig Jahre im Anschluss an Mittag (2009) als (weitere) neue Phase der europäischen Integration fassen. Während die wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Integration des gemeinsamen Marktes sich in einem allgemeinen Liberalisierungstrend in den OECD-Ländern widerspiegeln (Höpner et al. 2011) ist die Etablierung EU-weiter Normen zur Bewahrung nationaler Mindeststandards in der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Gesetzgebung dabei allerdings weitgehend bedeutungslos geblieben (Scharpf 2012). Eine Sequenz marktschaffender Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof hat diesem Trend zur Schleifung nationaler Arbeitsmarktinstitutionen mit einer 'Tendenz zur sukzessiven Landnahme gegenüber nationalen Rechtsordnungen' (Höpner/Schäfer 2010: 9) weiter Vorschub geleistet (Höpner 2011). Angesichts der jüngeren Entwicklungen von Wirtschaft und Gesellschaft in Europa äußerten sich zahlreiche Wissenschaftler mit kritischer Stimme. So erkennen etwa die Vertreter der Forschungsgruppe ?Staatsprojekt Europa? (2011: 7) eine 'Dominanz des Neoliberalismus [...] in den Institutionen der EU', deren Gesamtkomplex von Streeck (2013) als 'Liberalisierungsmaschine' und von Deppe (2013) als Organ eines 'autoritären Kapitalismus' bezeichnet wird. Grundsätzlich ergibt sich die Haltung nationaler Gewerkschaftsorganisationen zu Implikationen und Folgen der europäischen Integration aus den Bedingungen der politökonomischen Heterogenität der Union vor länderspezifischen Hintergründen, wie Mitte der 1950er Jahre bereits Haas (1958: 215) beschrieb: 'The attitude of labour toward integration depends on the economic and political conditions under which the unions of the ECSC countries live and operate.' Zusätzliche Brisanz gewann dieser Umstand seit Beginn des letzten Jahrzehnts unter dem Eindruck der EU-Osterweiterung in den Runden von 2004 (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern) und 2007 (Bulgarien und Rumänien). Wie oben bereits eingeführt, findet die Aushandlung grenzüberschreitender Zusammenarbeit von Gewerkschaften in der Europäischen Union heutzutage unter dem Oberbegriff eines ?europäischen Sozialmodells? oder eines ?Sozialen Europa? statt. Auf Grund der verschiedenen Bedeutungen des Konzeptes herrscht hierbei allerdings keinerlei Einigkeit darüber, was genau unter dem Begriff zu verstehen ist. Hyman (2006: 121) zu Folge ist das ?Soziale Europa? 'gleichermaßen analytische Kategorie, ideologisches Konstrukt und Streitgegenstand'. Nachvollziehbar wird diese multiple Verwendung vor dem Hintergrund der Begriffsgeschichte. Die ursprüngliche Einführung lässt sich in die politische Diskussion der frühen 1970er Jahre zurückverfolgen (Pierson/Leibfried 1998; Streeck 1998). Mit dem 1974 ins Leben gerufenen ?Ersten sozialpolitischen Aktionsprogramm? der Europäischen Gemeinschaft und dem ein Jahr später eingerichteten ?Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung? unternahmen die Mitgliedsstaaten hier erstmalig eine supranationale Initiative, die Aktivitäten der Gemeinschaft in den sozialpolitischen Bereich hinein auszudehnen (Rhodes 1998: 330). Nachdem das Konzept im Laufe der 1980er und 1990er Jahre zunehmend in Zusammenhang mit der Diskussion um dem ?Eurokorporatismus? gebracht worden war, gewinnt es seine heutige Bedeutung (wohl nicht zuletzt auf Grund der geringen praktischen Bedeutung des Eurokorporatismus) vor dem Hintergrund jüngerer Liberalisierungsentwicklungen - als Alternative. Bezeichnend ist, dass die inhaltliche Substanz eines zumindest abstrakt vorgestellten europäischen Sozialmodells auf westeuropäischen Gegebenheiten, das heißt einem spezifischen '?historischen Kompromiss? zwischen Kapital und Arbeit' (Streeck 2003: 93) aufbaut. So verbindet die gewerkschaftliche und parlamentarische Linke Europas mit dem Begriff vor allem die Hoffnung, 'jenes ?europäische Sozialmodell? erhalten [oder bewahren; Anmerkung der Autoren] zu können, das sich durch eine sozial regulierte Variante des Kapitalismus auszeichnet, die auf eine Verbindung von ökonomischer Effizienz und (relativer) sozialer Gleichheit zielt' (Schulten 2005: 15). Das in den 1980er Jahren langsam wachsende Interesse etwa der deutschen oder britischen Gewerkschaften an der europäischen Ebene speiste sich, so zum Beispiel Fetzer (2009), denn auch aus dem ökonomischen Druck der Globalisierung auf die nationalen Systeme. Als Bezugspunkt für die konkrete Ausgestaltung politischer Forderungen und Maßnahmen unterliegt die Anwendung des Konzeptes ?Soziales Europa? in der politischen Praxis einem grundsätzlichen Aushandlungscharakter. Als 'gesellschaftspolitische Zukunftsformel' beschreibt der Begriff eines europäischen Sozialmodells Aust et al. (2002: 273) zu Folge 'ein politisch-ideologisches Konstrukt [...], das europäische Gemeinsamkeiten definiert und propagiert, die erst noch zu realisieren wären'. Die Auseinandersetzung um die Bedeutung des symbolischen Rahmens ?Soziales Europa? wollen wir deshalb im Folgenden als Framing-Prozess verstehen. Ziel der Etablierung eines spezifischen Verständnisses des Begriffes ist demnach 'a shared interpretative framework that facilitates coordination, exchange, and ultimately commitment' (Ansell 1997: 360). Vor dem Hintergrund der negativen Auswirkungen, die die europäische Integration für die Gewerkschaften der Mitgliedsländer im Laufe der letzten Jahre mit sich gebracht hat, erscheint es bemerkenswert, dass der Glaube an die prinzipielle Möglichkeit eines europäischen Sozialmodells die Turbulenzen auch der Euro-Krise zumindest unter den europäischen Funktionären relativ unbeschadet überstanden zu haben scheint. Trotz der offensichtlichen Widrigkeiten und Verwerfungen, die sie für die europäischen Arbeitnehmer mit sich gebracht hat (Stützle 2014), ergibt sich eine prinzipielle Unterstützung der Integration aus dem Glauben, über die Stärkung der europäischen Regulierungsebene den vor allem jüngst zum Tragen kommenden Liberalisierungstrends begegnen zu können (siehe Kiess in diesem Band). Im Allgemeinen erkennen Beobachter wie Streeck (2015) und Wagner (2013) unter den Vertretern der europäischen Ebene eine besondere Präferenz für die transnationale Regulierungsarena. Unter dem Begriff des 'Integrationismus' versteht Höpner (2015: 30) jene 'Überzeugung, jedes Problem der europäischen Integration lasse sich durch ein Noch mehr an Europa lösen, also durch eine über den Status quo hinausgehende Verlagerung von politischen Kompetenzen und demokratischen Prozessen auf das politische System der EU'. Da sich grundsätzlich davon ausgehen lässt, dass das Ziel europäischer Gewerkschaftszusammenarbeit darin besteht, die europäische Integration für den sozialen Fortschritt nutzbar zu machen, lässt sich hinter der Befürwortung integrationistischer Maßnahmen ein Mittel zum Zweck vermuten. Wird ein ?mehr an Europa? hingegen zu einer prinzipiellen Maxime EU-politischen Handelns zu deren Erfüllung gegebenenfalls auch Abstriche bei anderen, zum Beispiel sozialen Zielen gerechtfertigt erscheinen, werden solche Strategien im Folgenden als integrationistisch bezeichnet. Theoretisch lässt sich also zwischen einem solchen normativen Integrationismus einerseits und einem deskriptiven Integrationismus, wie ihn die politikwissenschaftliche Debatte als Neo-Funktionalismus kennt (Haas 1958; Rosamond 2005), unterscheiden, der weitere Integration als besonders wahrscheinlich annimmt (so auch Vobruba 2015). 3. Zum Forschungsstand: Optimismus, Pessimismus und unter schiedliche Perspektiven auf das Handeln von Gewerkschaften Vor dem Hintergrund der von Streeck, Höpner und vielen anderen konstatierten Liberalisierungsentwicklungen erkennt Meardi (2012: 156) in der Osterweiterung der Union in den verschiedenen Runden seit 2004 einen 'starting test for union capacities'. Wenn es Gewerkschaften hier nicht gelingt, gemeinsame Positionen im grenzüberschreitenden Maßstab zu etablieren, erscheinen entsprechende internationalistische Bestrebungen - so die Überlegung - auch im größeren, oder sogar globalen Maßstab vergeblich. Mit Blick auf die Etablierung einer geteilten Politiklinie innerhalb der EU lassen sich bezüglich des Stands der Forschung zunächst zwei Tendenzen in den Beiträgen ausmachen. Zum einen betonen optimistische Beiträge Möglichkeit und Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit anhand empirischer und (häufig auch nur) konzeptioneller Befunde (Kowalsky 2010). Europäisierung tritt hier wahlweise als Chance für eine bessere Zukunft oder als einzige Möglichkeit der Rettung gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit auf. Demgegenüber verweisen pessimistische Beiträge auf die Hindernisse internationaler gewerkschaftlicher Interessenvertretung, deren Ursachen sie vor allem im besagten dreifachen Heterogenitätsproblem (siehe oben), einem allgemeinen Einflussverlust auf nationaler Ebene sowie der mangelnden Verpflichtungsfähigkeit der europäischen Verbände ihren Mitgliedsorganisationen gegenüber erkennen. Vor diesem Hintergrund gelinge es, so Mittag (2010: 44), den Gewerkschaften kaum, sich 'in der seit Jahren schwelenden Diskussion um ein europäisches Sozialmodell oder um den Begriff ?Soziales Europa? auf einheitliche Positionen zu verständigen'. Die folgende Darstellung dieser beiden 'broad - albeit somewhat oversimplified - camps of ?Eurooptimists? and ?Europessimists?' (Platzer 1997: 68) differenziert diese weiter in vier Kategorien aus, um auch unterschiedliche theoretische Perspektiven und epistemologische Herangehensweisen zu reflektieren. Mit dieser Gegenüberstellung wollen wir nicht zuletzt zu einer Diskussion zwischen unterschiedlichen Ansätzen anregen, die unserer Beobachtung nach unter allzu deutlichen Abgrenzungen leidet. 3.1. Die strukturell-pessimistische Perspektive der ländervergleichenden Forschung Eine Perspektive nimmt zum analytischen Ausgangspunkt die Annahme, dass Gewerkschaften in ihrer Rolle als Lohnkartelle und Instanzen der politischen Interessenvertretung von Lohnabhängigen vor der Aufgabe stehen, '[u]nterschiedliche und teilweise konkurrierende Einzelinteressen integrativ zu organisieren', was eine 'ständige gewerkschaftliche Herausforderung' bleibe (Dribbusch 2014: vgl. Zeuner 2004 und Hyman 2003). Historisch betrachtet bietet der Nationalstaat den wichtigsten Bezugsrahmen solcher Art von Interessenaggregation. Gewerkschaften, so Mittag (2010: 42), stellen folglich 'primär auf den nationalen Wirkungsraum ausgerichtete Verbände dar, deren Organisation mit den nationalen Kommunikationsstrukturen korrespondiert.' Gleichzeitig zeigt sich das Panorama nationaler industrieller Beziehungen innerhalb der EU, so die Kommission, als 'one of diversity', vor dessen Hintergrund kein 'general EU model of trade unionism' zu erkennen sei (European Commission 2011: 8). Besondere Brisanz erkennt Meardi (2012: 16) hierin vor dem Hintergrund der Osterweiterung: 'The EU's motto unitas in pluralitate (?United in Diversity?) sounds increasingly like meaning unitas in inaequalitate (?United in Unequality?)'. Für die Etablierung gemeinsamer politischer Positionen zwischen Gewerkschaften aus den alten und den neuen Mitgliedsländern ergibt sich eine zentrale Herausforderung aus den schwachen tarifpolitischen Strukturen in den osteuropäischen Staaten (mit Ausnahme Sloweniens). Vor dem Hintergrund der post-sowjetischen Privatisierungswellen, neuer Unternehmensgründungen sowie einem allgemeinen Rückgang der Vollzeitbeschäftigung steht die Tariffähigkeit osteuropäischer Gewerkschaften der ihrer westeuropäischen Schwesterorganisationen in wesentlichem Maße nach (Galgoczi 2014; Deppe/Tatur 2002). Erschwerend kommt hinzu, dass viele osteuropäische Gewerkschaften, bedingt durch vergleichsweise geringe Mitgliederzahlen, über geringe Mittel verfügen. Mit Blick auf ihren Verhandlungsstatus auf der europäischen Ebene überträgt sich diese Schwäche weiterhin in eine geringe Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den starken Gewerkschaften aus dem Westen des Kontinents (Hoffmann 2010: 152). Dass die Folgen der Finanzkrise die Peripherie (im Gegensatz zu etwa Deutschland oder Schweden) besonders hart getroffen hat, dürfte diese Entwicklungen nicht zum Besseren gewandt haben (vgl. Bernaciak et al. 2014: 44). Zusätzlich zur Finanzknappheit der nationalen Verbände lassen sich mit Blick auf die Etablierung gemeinsamer politischer Positionen zwischen ost- und westeuropäischen Vertretern auf EU-Ebene schließlich interkulturelle Differenzen als Ursache von Verständigungsproblemen ausmachen (Klemm et al. 2011). Weiter hat die Debatte um sich vor allem zwischen Nord- und Südeuropa unterscheidende nationale Wachstumsmodelle bzw. Kapitalismustypen jüngst auf die Schwierigkeiten der Vereinbarkeit so unterschiedlicher Modelle unter ein gemeinsames währungs- und wirtschaftspolitisches Regime hingewiesen (Armingeon/Baccaro 2012; Hall 2014). Exportorientierte Wachstumsstrategien einerseits und konsumbasierte andererseits haben, so Baccaro und Pontusson (2016), unterschiedliche Folgen für Verteilungskonflikte bzw. bauen auf unterschiedlichen Kompromissen zwischen Klassen und Wirtschaftssektoren auf. Diese Heterogenität wiederum erschwert transnationale Kooperation, wenn gewerkschaftliche Organisationen in unterschiedlicher Form in Interessenkoalitionen integriert oder systematisch von solchen ausgeschlossen sind. Vor dem Hintergrund struktureller Heterogenität zwischen den Gewerkschaftsorganisationen auf der Meso- sowie der nationalen Rahmenbedingungen auf der Makro-Ebene gelangen Beiträge aus dem Feld der Vergleichenden Politischen Ökonomie zu dem Ergebnis, dass ein europäisches Sozialmodell, welches Arbeits- und Beschäftigungsstandards auf dem Niveau westeuropäischer Wohlfahrtsstaaten harmonisiert, als hochgradig unwahrscheinlich einzustufen ist (vgl. Höpner/Schäfer 2010; 2012; 2012a). Während die Betonung von Restriktionen, die einer transnationalen Organisierung gewerkschaftlicher Interesse als substanzielle Hindernisse entgegenstehen, den realen Gegebenheiten ohne Frage entspricht, wirft der von Arbeiten in diesem Feld etablierte Fokus auf institutionelle Bedingungen Fragen nach etwaigen Gestaltungspotenzialen politischer Akteure auf. Gegen eine solche 'strukturalistische oder deterministische Sicht', so Kowalsky (2010: 139), gelte 'es festzuhalten, dass europäische Initiativen, die Konflikte hervorrufen, deutliches Politisierungs- und damit Veränderungspotenzial haben.' Beiträge mit einem entsprechend optimistischen Blickwinkel stellt der folgende Abschnitt vor. 3.2. Die Perspektive des mobilisierungspolitischen Euro- (Zweck)Optimismus Während die strukturbetonte Sicht der Vergleichenden Politischen Ökonomie also epistemologisch auf Hindernisse grenzüberschreitender Institutionenbildung fokussiert ist, nimmt eine zweite Gruppe von Beiträgen als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen diejenigen Herausforderungen, die Gewerkschaften zu transnationaler Organisation motivieren. Ebbinghaus und Visser (1994: 250) unterscheiden diesbezüglich zwischen ?Stoß? - und ?Sog?-Effekten. Während ein Einflussverlust und Lohndruck von der nationalen Ebene die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit ansteigen lässt, verspricht die Vorstellung einer starken europäischen Regulierungsebene aus dieser Perspektive neue Potenziale politischer Einflussnahme. Eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Grundannahme solcher 'zweckoptimistischer' Beiträge stellt die Vorstellung dar, den Gewerkschaften stünde unter Bedingungen von europäischer Integration (und Globalisierung insgesamt) ohnehin nichts anderes offen, als ihre Interessen kollektiv und im internationalen Maßstab zu vertreten. Nur wenn diese ihre nationalen Egoismen (etwa in punkto Lohnzurückhaltung) überwänden, könne es gelingen, neue politische Machtfundamente zu erschließen. 'Die Gewerkschaften', so schreibt mit Ulrich Beck (2000) einer der prominentesten Vertreter einer solchen internationalisierungsoptimistischen Position, 'müssen sich transnational neu erfinden.' Vor dem Hintergrund solcher (wahrgenommener) Notwendigkeiten fallen die Einschätzungen gewerkschaftlicher Europasensibilität unter den Vertretern dieses Literaturstranges häufig recht positiv aus: 'Europäische Themenstellungen ziehen sich nahezu durch alle Fachabteilungen in den Gewerkschaftszentralen und auch in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit ist das Thema Europa mittlerweile fest verankert' (Hoffmann 2011: 149). Neben der Einsicht in die vermeintliche Notwendigkeit eines internationalen Zusammenschlusses steht hinter vielen Beiträgen aus diesem Bereich eine normative Setzung. Ganz im Sinne der Menschenrechtserklärung als ultimativem Bezugsrahmen moralischen Handelns im Zuge der französischen Revolution ('Alle Menschen werden Brüder!') orientiert sich das Handeln der Arbeiterbewegung (zumindest nominell) am Leitwert einer größtmöglichen Fassung der Solidargemeinschaft. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die politische Stoßrichtung des proletarischen ?Inter?-Nationalismus (Lenin 1969) ihre Konturen. Die Grundidee dieser politischen Ausrichtung bringen Bormann und Jungehülsing (2016: 58) auf den Punkt: 'Die Interessen der vom Kapital Ausgebeuteten sind weltweit prinzipiell dieselben und die Empörung über die damit verbundene Ungerechtigkeit sollte auch weltweit verbreitet sein.' Eine entsprechende Überzeugung leitet auch Brunkhorst (2014: 167), wenn er für die europäischen Lohnabhängigen eine 'transnationale Klassenlage' konstatiert, die durch die richtige Form der Auseinandersetzung nationaler Gewerkschaftsvertreter miteinander in ein geteiltes 'Klassenbewußtsein umschlagen' könne. Und tatsächlich, blickt man auf die Streikstatistik der Krisenjahre, zeigt sich, dass allein in den Jahren 2010 und 2011 in Europa 24 Generalstreiks abgehalten wurden - so viel wie in den 1980ern und 1990ern jeweils in einem Jahrzehnt (Gallas/Nowak 2012). In der Konsequenz erkennt Brunkhorst (2014: 166) deshalb eine 'Transnationalisierung des Klassenkampfes' als 'Alternative zum Rückzug in die Festung des nationalen Sozialstaats.' Vor dem Hintergrund 'fortgesetzter Austeritätspolitik' werde die Krise heute 'zum ersten Mal als gemeinsames Problem Europas öffentlich wahrgenommen.' Gleichzeitig habe 'der globale Kapitalismus den schon fast überwundenen Klassenkonflikt von Lohnarbeit und Kapital auch im reichen und sozialstaatlich verfaßten Segment der Weltgesellschaft wieder manifest werden lassen', so dass nationale Klassenkämpfe sich angesichts dessen als 'immer aussichtsloser' darstellten, teile doch 'der deutsche Langzeitarbeitslose mit seiner griechischen Kollegin weit mehr materielle und ideelle Interessen als mit seinen vermögenden Landsleuten, die dem Land (zumindest dem der Griechen) längst den Rücken gekehrt haben.' Eine entsprechende Sichtweise vom Kopf auf die Füße zu stellen, versuchen Loh und Skupien (2016: 594), indem sie die Potenziale einer europäischen Gewerkschaftsbewegung herausstellen: 'Eine starke und funktionierende europäische Gewerkschaftsbewegung, institutionalisiert etwa in Form des Europäischen Gewerkschaftsbundes, kann als zentraler - oder zumindest als ergänzender - Akteur für eine weiter erstarkende europäische Öffentlichkeit und transnationale Parteien dienen.' Mit ihrem Vorschlag einer starken europäischen Lohnkoordinierung zur Verhinderung von Standortwettbewerb sowie der Einführung eines europäischen Mindestlohns, greifen die Autoren zur Untermauerung ihres Vorschlags zwei häufig vorzufindende Bezugspunkte euro-optimistischen Räsonierens auf (vgl. Schroeder/Weinert 2003; Schulten et al. 2005). Diesen Vorschlag komplementieren die Autoren mit der Idee, eine europäische Arbeitslosenversicherung einzuführen und so 'quasi unter der Hand Transferleistungen innerhalb der Union [zu] ermöglichen'. Beiträgen aus diesem Spektrum, so zeigt sich, mangelt es keineswegs an Ideen oder dem Auge für (potenzielle) Mobilisierung. Teilweise sticht aber die völlig fehlende empirische Grundlage heraus, etwa wenn generell gleiche Interessen der Lohnabhängigen in Europa angenommen werden. Dass Beobachter bestimmte Maßnahmen für nötig halten, bedeutet außerdem keineswegs, dass sich entsprechende Vorschläge auch tatsächlich verwirklichen lassen. Getreu dem englischen Sprichwort ?hope is a rope? dienen optimistische Einschätzungen der Potenziale internationaler Organisierung auch (oder sogar: vor allem) deren Ermöglichung. Vor diesem Hintergrund wollen wir in diesem Zusammenhang auch von einem Euro-Zweckoptimismus sprechen.

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