Narrative der Gewalt - Interdisziplinäre Analysen

Narrative der Gewalt - Interdisziplinäre Analysen

von: Ferdinand Sutterlüty, Matthias Jung, Andy Reymann

Campus Verlag, 2019

ISBN: 9783593439969

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 6856 KB

 
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Narrative der Gewalt - Interdisziplinäre Analysen



Narrative der Gewalt: Eine Einleitung Matthias Jung, Andy Reymann und Ferdinand Sutterlüty Gewalt besitzt, wie alle sozialen Phänomene, eine zeitliche Struktur. Sie hat eine Vorgeschichte, einen Ablauf und später auftretende Folgen nicht nur für die Opfer und Täter, sondern auch für ganze Gruppen und Gesellschaften. Gewaltereignisse müssen erzählt werden, um ins individuelle und kollektive Gedächtnis treten und tradiert werden zu können. Häufig werden sie als besonders einschneidende Zäsuren wahrgenommen, die das gesellschaftliche Leben in ein Davor und ein Danach teilen. Das ist der Grund, weshalb Narrativität in allen Wissenschaften, die sich mit Gewaltphänomenen beschäftigen, von zentraler Bedeutung ist. Für die Soziologie und Ethnologie gilt das ebenso wie für die Archäologie und Geschichtswissenschaft, wenn auch mit verschiedenen Akzentuierungen und spezifischen Fragestellungen. Vielversprechend erscheint daher das Unterfangen des vorliegenden Bandes, die Diskurse, die in den genannten Disziplinen über Narrativität geführt werden, miteinander ins Gespräch zu bringen. Unterschiede in den disziplinären Theoriebezügen und Darstellungsusancen, aber auch die Spezifika der jeweils verfügbaren Datentypen und Quellenlagen lenken den Blick auf die Bedeutung von Narrativen für die Gewaltforschung. Die Beiträge zu diesem Band führen dies einmal mehr vor Augen. Aus unterschiedlichen Perspektiven richten sie die Aufmerksamkeit auf die Konstruktionsprinzipien von Gewaltnarrativen. Wie wird aus Daten, Berichten und materiellen Spuren von Gewalt eine zusammenhängende Geschichte? Welche Erzählprinzipien, Interpretationsmuster, Theorieannahmen und Modelle liegen Gewaltnarrativen zugrunde? Derartige Fragen und die vor allem mit langfristigen historischen Narrativen verknüpften Schlichen und Fallen, Vorannahmen, Suggestivwirkungen und Diskurseffekte werden von den Beiträgen reflektiert und teilweise dekonstruiert. Einige der Beiträge stellen wiederum ihrerseits Exempel von Gewaltnarrativen unterschiedlicher Reichweite dar. Eine Publikation wie diese, in der sich Aufsätze zu verschiedenen historischen Epochen, Gesellschaften und Formen der Gewalt gemeinsam zwischen denselben zwei Buchdeckeln wiederfinden, bedarf gewiss einiger einleitender Worte. Das Phänomen der Narrativität wurde zwar in vielerlei Hinsichten bereits untersucht, kaum jedoch der Umstand, dass Gewaltnarrative teilweise eigenen Konstruktionsregeln folgen und soziale Funktionen annehmen können, die ihnen eine besondere Form verleihen. Dieses Desiderats wollen wir uns im Folgenden annehmen. Zunächst gehen wir etwas allgemeiner auf einige narratologische Konstruktionsprinzipien ein, um dann die unterschiedlichen Verwendungsweisen von Gewaltnarrativen in den historischen Wissenschaften und in den Sozialwissenschaften näher zu beleuchten. Konstitutionsbedingungen von Narrativen Narrativität ist allgegenwärtig. Mit Ludwig Wittgenstein könnte man sagen, dass es sich dabei um eines jener Phänomene handelt, 'die dem Bemerktwerden nur entgehen, weil sie ständig vor unseren Augen sind'. Narrativität ist eine universelle, das menschliche Kommunizieren und Realitätserleben beeinflussende Wahrnehmungsebene, nicht nur ein 'Register, welches bisweilen ein- und ausgeschaltet wird, sondern ein Filter, durch den wir alle Ereignisse und alles Verhalten wahrnehmen'. Die Prädisposition, Wahrnehmung und Erfahrung narrativ zu organisieren, sollte allerdings nicht als eine Art Denkkorsett missverstanden werden, dessen man sich nicht entledigen kann. Es ist vielmehr möglich, sie durch Reflexion zu distanzieren und in ihren Struktureigenschaften zu erkennen. Theorien, die eine unhintergehbare Immanenz narrativer Strukturen behaupten, sind selbstwidersprüchlich, weil sie in Anspruch nehmen müssen, diese Immanenz bereits durchbrochen zu haben. Freilich ist die Varianz von wissenschaftlich bedeutsamen Narrativen hinsichtlich ihrer Gegenstände, Konstruktionsprinzipien und Reichweiten enorm. Zwischen der Erzählung einer Szene häuslicher Gewalt in einem Interview, das dann in der Forschung analysiert wird, und einer zivilisationsgeschichtlichen Analyse, die selbst ein Narrativ über die Rolle der Gewalt in der Menschheitsgeschichte fabriziert, liegen Welten. Die basalste Ebene von Narrativen ist indessen bereits in sprachlichen Strukturen verankert. Schon die Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur von Sätzen in den indoeuropäischen Sprachen nämlich ist narrativ angelegt. Sätze lassen sich gar nicht formulieren, ohne eine Handlungsinstanz sowie eine Handlung oder einen Zustand zu benennen, die sodann in Relation zu anderen Entitäten gesetzt werden, durch welche oder mit welchen etwas geschieht. Bei aller Mannigfaltigkeit muss sich jede Darstellung der Realität diesem Grundschema fügen. Am anderen Ende der nach mikro- und makrologischen Erzählstrukturen gegliederten Skala stehen weit ausgreifende und elaborierte Metanarrative. Diese integrieren geschichtliche Epochen und betten Narrative geringerer Reichweiten in ihre Darstellung ein; diesen fügen sie durch die weitere Kontextuierung mitunter gänzlich neue Bedeutungsdimensionen hinzu. Konrad Jarausch bestimmt die Besonderheiten solcher Metanarrative in einer Weise, die uns noch beschäftigen wird: 'Sie behandeln langfristige Entwicklungsprozesse, vereinfachen komplexe Zusammenhänge zu einem Grundmuster, integrieren unterschiedliche Geschichten in einer großen Erzählung, bieten ideologische Anweisungen für politisches Handeln und projizieren kulturelle Identitätsvorstellungen.' Über die Organisation der Wahrnehmung und Erfahrung hinaus stiften Narrative die Kohärenz individueller Lebensgeschichten, auf welche sich etwa das Erkenntnisinteresse der sozialwissenschaftlichen Methode des autobiografisch-narrativen Interviews richtet. Narrative sind konstitutiv für das Selbstverständnis von Kollektiven und Staaten, deren Handlungsentscheidungen sie nachhaltig beeinflussen. Dabei können Narrative die Sozialgruppen, in denen sie entstanden sind, um Jahrhunderte und Jahrtausende überdauern, ohne ihre Motivationskraft einzubüßen. Ein Paradebeispiel dafür ist die kanonische Exodus-Erzählung, die im Laufe der Geschichte innerhalb der jüdisch-christlichen Kultursphäre zahlreichen Befreiungskämpfen das imaginative Repertoire geliefert hat. Narrative fungieren einerseits als in der Zeit entfaltete Vergewisserung und auch Verstetigung von Identitäten und historisch gewachsener Praxen. Andererseits bilden sie aber auch eine Darstellungsform theoretischer, von den Zumutungen der Praxis entlasteter Erkenntnis. Es lassen sich demnach zwei Typen von Narrativen unterscheiden: die eher naturwüchsigen, alltagspraktischen Narrative, deren Konstruktionsregeln meist implizit bleiben, und wissenschaftliche Narrative, die ihre regulatorischen Prinzipien im Idealfall vollständig explizieren. Beide Arten von Narrativen haben performative Effekte: Sie bewirken etwas. Was erzählt wird und wie es erzählt wird, hat Folgen für die soziale Praxis. Diese Folgewirkungen, die ein nicht intendierter Effekt des Narrativs oder auch das Ergebnis einer instrumentellen Absicht sein können, werden wiederum ihrerseits zum Gegenstand von wissenschaftlichen Analysen, Fortsetzungs- und Gegennarrativen. Angesichts der hier nur kursorisch angedeuteten Vielgestaltigkeit überrascht es, dass die konstitutiven Grundelemente, aus denen sich Narrative zusammensetzen, doch recht überschaubar sind. Ausgehend von der Poetik des Aristoteles, lassen sich drei notwendige Voraussetzungen von Narrativen unterscheiden. Erstens ist eine identifizierbare Handlungsinstanz in Gestalt eines individuellen oder kollektiven Akteurs erforderlich, dem Zustände und Vorgänge zugeschrieben werden können. Daraus resultiert eine im Kern handlungstheoretische Perspektive, die allerdings leicht dazu verführen kann, sich mit der Wiedergabe von geschichtlichen Verläufen zu begnügen und explikative Ansprüche auf die bloße Abfolge von Ereignissen und Zuständen zu reduzieren. In diesem Sinne hat William Sewell vor der 'narrative overconfidence' einer Geschichtswissenschaft gewarnt, die konzeptionelle Fragen über zeitliche Dynamiken und historische Kausalitäten einfach in einer Anhäufung weiterer narrativer Details untergehen lässt. Der handlungstheoretische Impetus von Erzählungen kann geschichtliche Verläufe zudem einseitig als das Produkt intentionalen Handelns von Akteuren erscheinen lassen, was strukturalistische Ansätze an historiografischen Narrativen häufig vehement kritisiert haben. Eine aufschlussreiche Analogie dürfte sich in diesem Zusammenhang aus einer Beobachtung ergeben, die der Psychologe Jerome Bruner in einem Experiment mit Vorschulkindern gemacht hat. Ihnen wurden Geschichten erzählt, in welchen ein ungewöhnliches Verhalten von Akteuren vorkam, das in diesen Geschichten selbst nicht erklärt wurde. Bei deren Wiedererzählung präsentierten die Kinder 'eine ganze Fülle narrativer Erfindungen', mit denen sie wie selbstverständlich das erratisch wirkende Verhalten durch die Interpolation von Motiven nachvollziehbar machten. Von hier aus lässt sich ein Bogen schlagen zum Forschungsprogramm des Mediävisten Johannes Fried, das die Faktoren der Verformung von Erinnerungen untersucht. Die narrative Disposition ist ein solcher Faktor, denn erinnert werden einzelne Szenen, und erst nachträglich erfolgt eine Rekonstruktion zu komplexen Verlaufsprozessen. Ferner können Handlungsinstanzen überhaupt erst narrativimmanent konstruiert oder in ungeprüfter Weise um des Narrativs willen unterstellt werden. Auf die damit verbundenen Probleme hat Pierre Bourdieu am Beispiel kollektiver Akteure hingewiesen: 'Jede Aussage, in der ein Kollektiv Subjekt des Satzes ist - Volk, Klasse, Universität, Schule, Staat -, unterstellt die Frage der Existenz dieses Kollektivsubjekts als bereits gelöst.' Zweitens bedarf ein Narrativ sinnfälliger Anfangs- und Endpunkte. Es setzt 'Interdependenzunterbrecher' voraus, wie es in der Systemtheorie heißt. Die erzählstrukturierende Funktion von Interdependenzunterbrechern besteht darin, Zäsuren im kontinuierlichen Strom der Ereignisse zu setzen und in der einen oder anderen Weise nahezulegen, dass die Ereignisse innerhalb dieser Zäsuren zusammengehören. Je nachdem, ob der Anfang oder das Ende betont wird, ergeben sich unterschiedliche Modulationen des Narrativs. Einer Betonung des Anfangs entspricht eine Ursprungserzählung, bei der aus einem Gründungsereignis alles Weitere hervorgeht und sich erklärt. Der Betonung des Endes dagegen entspricht eine Teleologie, die auf einem Woraufhin der Erzählung beruht und eine zielgerichtete Entwicklung beschreibt. Drittens kann ein Narrativ nicht eines 'roten Fadens', eines inneren Zusammenhangs entraten. Dieser muss dem Germanisten Matías Martínez zufolge drei Aspekte miteinander verbinden, nämlich die Referenz auf singuläre Gegenstände, Sachverhalte oder Ereignisse (Konkretheit), die Darstellung einer chronologischen Abfolge (Temporalität) und schließlich eine Bezugnahme der dargestellten Ereignisse aufeinander, die ein bloß zeitliches Nacheinander oder ein räumliches Nebeneinander transzendiert und damit narrative Kohärenz konstruiert oder rekonstruiert (Kontiguität). Das wichtigste Prinzip ist hierbei die Unterstellung von Kausalität, das heißt die Neigung, eine zeitliche Abfolge als Kausalbeziehung zu interpretieren. Roland Barthes vermutet sogar, 'daß die treibende Kraft der narrativen Aktivität die Verwechslung von zeitlicher Folge und logischer Folgerung ist, das Nachfolgende in der Erzählung als verursacht von gelesen wird; die Erzählung wäre in diesem Fall die systematische Anwendung des in der Scholastik unter der Formel post hoc, ergo propter hoc angeprangerten logischen Irrtums'. Dies kann umso leichter geschehen, als die narrativ verfasste Wahrnehmungsverarbeitung auch das in der Filmtheorie als 'Induktionseffekt' bekannte Phänomen kennt. Es bewirkt, dass zwei durch einen Schnitt getrennte Szenen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, vom Publikum als sinnvoll miteinander verbunden oder im Modus einer Kausalkette interpretiert werden. Allen drei Voraussetzungen narrativer Formen gemeinsam ist ihre Selektivität: Die Bevorzugung bestimmter Handlungsinstanzen gegenüber anderen, die mitunter einer gewissen Willkür geschuldete Auswahl eines Anfangs und eines Endes sowie die Hervorhebung einiger als relevant erachteten Zusammenhänge unter Ausblendung anderer. Hier lässt sich eine Parallele zwischen historischen Narrativen und therapeutischem Erzählen herstellen. In einer aufschlussreichen Bemerkung deutet Sigmund Freud die Hermetik der von den Patienten präsentierten Narrative als Abwehrmechanismus: 'Es gibt Patienten, die sich von den ersten Stunden an sorgfältig auf ihre Erzählung vorbereiten, angeblich um so die bessere Ausnützung der Behandlungszeit zu sichern. Was sich so als Eifer drapiert, ist Widerstand. Man widerrate solche Vorbereitung, die nur zum Schutze gegen das Auftauchen unerwünschter Einfälle geübt wird.' Verallgemeinerungsfähig ist an dieser Beobachtung, dass sich die Bedeutung von Narrativen erst vor dem Hintergrund dessen vollends konfiguriert, was von ihnen ausgeschlossen wird. Gerade dort, wo das Ausgeschlossene für die Analyse und Bewertung von Narrativen entscheidend ist, müssen die tieferliegenden Interessen aufgedeckt werden, in deren Dienst sie das Gepräge eines beredten Verbergens und Verschweigens angenommen haben. Nachdem nun die allgemeinen Grundzüge narrativer Konstrukte und einige ihrer Tücken erläutert wurden, wollen wir im Folgenden drei Verwendungsweisen des Narrativbegriffs in den Geistes-, Sozial- und Geschichtswissenschaften unterscheiden. Einige bereits dargestellte Überlegungen aufgreifend, differenzieren wir zwischen einem phänomenologischen, einem konstruktiven und einem performativen Gebrauch von Narrativen in diesen Wissenschaften. Phänomenologische Verwendung des Narrativbegriffs: Narrative der sozialen Praxis Zunächst einmal liegen die für die Forschung relevanten Narrative auf der Ebene der untersuchten Phänomene. Die entsprechenden Geschichten und Erzählungen sind nicht Produkte der Forschung, sondern deren Gegenstand. Es handelt sich um Narrative der sozialen Praxis. Eine ihrer wichtigsten Funktionen besteht darin, individuelle und kollektive Selbstverständnisse hervorzubringen und zu stützen. Über die Rekonstruktion ihrer identitätsstiftenden Funktion hinaus lässt sich dann untersuchen, wie Narrative dazu genutzt werden, Handlungen zu motivieren, zu legitimieren oder zu delegitimieren. Narrative in diesem phänomenologischen Sinn stellen wichtige Materialien für die Geschichtswissenschaft und die Sozialwissenschaften dar. In der sozialen Praxis gebrauchte Narrative sind der Prähistorischen Archäologie hingegen unzugänglich, weil sie nur über materielle, nicht aber versprachlichte Zeugnisse verfügt. Die soziologische Biografieforschung beruht gänzlich auf Erzählungen von Lebensgeschichten, deren Strukturmerkmale sie untersucht und fragt, wie sie mit Handlungsgewohnheiten, Deutungsmustern und Entscheidungen von Akteuren zusammenhängen. So konnte etwa gezeigt werden, wie 'Gewaltkarrieren' jugendlicher Wiederholungstäter auf das Engste mit den Repräsentationen ihrer Lebensgeschichten verwoben sind; diese gleichen nämlich typischerweise Konversionserzählungen, insofern die Jugendlichen einen Umschlag familiärer Opfererfahrungen in die Täterrolle schildern, dem sie die bleibende Bedeutung einer epiphanischen Erfahrung zuschreiben. Auf einem ganz anderen Feld hat der Historiker Bernd Greiner auf die Motivationskraft von Narrativen hingewiesen. Er spricht von einem Kriegsnarrativ, von dem die US-Soldaten in der Anfangsphase des Vietnamkriegs durchdrungen waren: Sie betrachteten ihren Einsatz als 'John Wayne-thing' und damit im Rahmen eines Narrativs, das gewaltbereite, von Härte, Mut und Loyalität geprägte Männlichkeit betont und kriegerische Gewalt als Abenteuer und Spaß perzipiert. Teil dieses Narrativs war auch die von den beiden Weltkriegen herrührende Gewissheit: 'Amerikaner sind zum Gewinnen geboren'. Wie wirkmächtig historische Narrative sein können, zeigt die Dolchstoßlegende, die nach dem Ersten Weltkrieg von der Obersten Heeresleitung lanciert wurde, um von ihrer Rolle bei der 'Schmach' der Versailler Friedensverträge abzulenken. Sie besagte, dass das im Feld unbesiegte deutsche Heer durch vaterlandslose Zivilisten aus der eigenen Bevölkerung gewissermaßen hinterrücks erdolcht worden sei. Das Verschwörungsnarrativ wurde von der antidemokratischen Rechten bereitwillig aufgegriffen und später im Nationalsozialismus dazu benutzt, das gewaltsame Vorgehen gegen Sozialdemokraten und Juden zu legitimieren. Narrative dieser Art können auch dazu dienen, die Bedeutung des eigenen Tuns über unmittelbare Konfliktlinien hinaus bis ins Unermessliche zu steigern. In diesem Sinne hat Mark Juergensmeyer etwa auf die Rolle der Idee eines 'kosmischen Krieges' hingewiesen, die im Lauf der Geschichte für viele terroristische Bewegungen prägend war und sich bei heutigen Dschihadisten wiederfindet. Konstruktive Verwendung des Narrativbegriffs: wissenschaftliche Narrative Narrative aus der Feder von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verbinden Daten und Quellen, Ereignisse und Beobachtungen, um daraus eine zusammenhängende, epochenspezifische oder epochenübergreifende Darstellung zu generieren: Sie entwerfen historische Verlaufsgestalten. Der Streit um die Angemessenheit derartiger narrativer Konstruktionen entbrannte zuerst in den Geschichtswissenschaften. Die Selbstverständlichkeit historiografischer Erzählungen als genuiner geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisform wurde insbesondere von den Protagonisten einer Struktur- und Sozialgeschichte in Frage gestellt, die eine explizite Theorieanwendung forderten. Ihnen erschienen Narrative als eine defizitäre und vorwissenschaftliche Art der Beschäftigung mit geschichtlichen Verläufen. Strukturveränderungen würden durch eine narrative Darstellung auf punktuelle und symptomatische Ereignisse verkürzt und geschichtlich relevante Handlungsimpulse auf einzelne Akteure reduziert - ganz im Sinne des berüchtigten Diktums Heinrich von Treitschkes: 'Männer machen Geschichte'. Als Beispiele für überindividuelle Strukturen, die Voraussetzungen des Handelns sind und sich nur langfristig, wenn auch zuweilen schubartig verändern, nennt Reinhart Koselleck Verfassungen, Herrschaftsweisen, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Freund-Feind-Konstellationen, geografisch-räumliche Vorgegebenheiten in Beziehung zu ihrer technischen Verfügbarkeit sowie unbewusste, Institutionen prägende Verhaltensformen und Rechtssysteme. Das Erzählen galt den neuen Theoretikern, wie es bei Golo Mann heißt, 'als altmodisch, als reaktionär, elitär, erfolgsverherrlichend, beschönigend, oberflächlich' sowie 'als blind gegenüber dem Hintergrund wirtschaftlicher, sozialer Bedingungen, welche allein den Gang der Ereignisse verstehen lassen'. Die Strukturgeschichte sah sich ihrerseits dem Vorwurf ausgesetzt, die Geschichtsschreibung durch eine technokratische Verwissenschaftlichung versteinern zu lassen. Die akademische Forschung habe der Historie 'das Erzählen ausgetrieben' oder dieses 'in die Mikrohistorie und Alltagsgeschichte verbannt'. 'Sie hat', so Johannes Süßmann weiter, 'das Interesse am Einzelnen, seinen politischen Optionen und moralischen Dilemmata in der Geschichte unter Ideologie-Verdacht gestellt. Sie hat einen Kult getrieben um anonyme Strukturen und Großtheorien, dessen Begriffsabrakadabra abschreckend wirkt.' Die Vertreterinnen und Vertreter strukturgeschichtlicher Ansätze seien weder willens noch in der Lage, die in historische Narrative eingegangenen theoretischen Anteile zu erkennen. Um eine Synthese von Theorie und Narrativ bemüht, hat Jörn Rüsen den Begriff des 'narrativen Theoriegebrauchs' geprägt: 'Theorien sind Konstruktionen, nach denen erzählt werden kann, sie sind sozusagen Erzählgerüste, Baupläne von Geschichten.' Erzählen ist in diesem Verständnis keine naive Vorform von Theorie, sondern diese ist im Gegenteil Bedingung der Möglichkeit einer Erzählung. Zwar verlören Erzählungen, die auf der Inkorporation von Theorie fußen, an 'Anschaulichkeit und Plastizität', doch läge zugleich ein Gewinn an 'Trennschärfe und Präzision' vor. Zudem sei der Geltungsanspruch dieser Narrative von sich aus begründbar, während Narrative ohne theoretische Basis auf externe Beglaubigungen angewiesen blieben. Für Johann Gustav Droysen war die Erzählung nur ein geschichtswissenschaftlicher Darstellungsmodus unter anderen. Dieser sei angemessen, wenn erstens das Geschehen 'nach seinen wesentlichen Momenten' rekonstruiert worden sei und zweitens 'als gewollte und bewußte Handlung' von identifizierbaren Akteuren gelten könne. Die Erzählung sei als Darstellungsform indessen verfehlt, 'wo ein sozusagen stilles Geschehen die Dinge werden läßt, wo also die Wandlungen unmerklich vor sich gehen, die bedingenden und bestimmenden Einflüsse gleichsam latent wirken'. Resümierend fügt Droysen hinzu: 'Ich wüßte nicht, wie man die Geschichte einer Rechtsinstitution (oder) z.E. der Dreifelderwirtschaft erzählen sollte; das richtige Gefühl wird dafür andere als die erzählende Form finden.' Demgegenüber würde Hayden White darauf beharren, dass Narrativität gerade kein Code der Darstellung unter anderen ist, sondern als menschliche Universalie eine Art Metacode, der nicht nur diejenigen Geschichtsdarstellungen durchdringt, die sich explizit als Erzählungen verstehen. Darin artikuliert sich das Problem der Skalierung von Narrativität, denn offensichtlich bezieht sich die Annahme einer narrativen Metacodierung auf eine andere Ebene als die eines narrativen Theoriegebrauchs im Sinne Rüsens. White zufolge sind Fakten nicht die Grundlage dafür, dass den in ihnen repräsentierten Ereignissen Bedeutungen zugeschrieben werden können, sondern vielmehr eine Funktion der Bedeutungen, welche die Ereignisse in einem narrativen Plot erhalten, wie er dies in seiner umfangreichen Studie zur Historiografie des 19. Jahrhunderts untersucht hat. An dieser Studie erweist sich allerdings auch, wie wenig ergiebig tropologische Analysen historiografischer Werke für sich genommen sind, denn häufig erwecken sie den Eindruck von Nachrationalisierungen anderweitig, vor allem auf dem Wege ideengeschichtlicher Rekonstruktionen gewonnener Erkenntnisse. Wie eng oder weit gefasst man auch immer die Geltungsreichweite von Narrativen einschätzen mag, besteht doch kein Zweifel daran, dass eine die Einzelbefunde sinnhaft verknüpfende Funktion von Narrativen nicht nur literarischen oder populärwissenschaftlichen Genres vorbehalten ist. Nach Droysen stellen Narrative eine Methode wissenschaftlicher Ergebnispräsentation dar. Wie der Ur- und Frühgeschichtler Ulrich Veit am Beispiel von Gewaltnarrativen festhält, besitzt die Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse wie auch ihre museale Inszenierung stets 'erzählerische Qualitäten'.

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