Deutschland ist gerechter, als wir meinen - Eine Bestandsaufnahme

Deutschland ist gerechter, als wir meinen - Eine Bestandsaufnahme

von: Georg Cremer

Verlag C.H.Beck, 2018

ISBN: 9783406727856

Sprache: Deutsch

273 Seiten, Download: 2643 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Deutschland ist gerechter, als wir meinen - Eine Bestandsaufnahme



1.

Raus aus dem Niedergangsdiskurs


Nein, es ist nicht alles gerecht in Deutschland, beileibe nicht. Es gibt weiterhin einen unnötig engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Wer ein Leben lang im Niedriglohnsektor gearbeitet hat, bekommt im Alter oft dennoch nicht mehr zum Leben, als wenn er nie gearbeitet hätte; seine Lebensleistung wird nicht anerkannt. Der falsche, weil ausländisch klingende Name kann bei einer Bewerbung oder der Wohnungssuche massive Nachteile bringen. Asylbewerber erhalten nicht den vollen medizinischen Schutz, der allen Versicherten zusteht. Das sind nur einige Beispiele. Es gibt genügend Gründe, über Gerechtigkeit zu streiten und laut zu protestieren, wenn Ungerechtigkeit kein Gehör findet.

Aber es hat sich bei uns ein Niedergangsdiskurs breitgemacht, der den sozialen Verhältnissen in Deutschland nicht gerecht wird. Obwohl die Zahl der Beschäftigten in nahezu allen Hilfefeldern des Sozialstaats zunimmt, verfängt die Rede vom Sozialabbau. Man kann, ohne verlacht zu werden, öffentlich behaupten, Deutschland habe heute nur noch einen «Suppenküchensozialstaat». Die großen Erfolge der Arbeitsmarktpolitik werden kleingeredet, so als sei die Halbierung der Arbeitslosenquote seit 2005 Folge einer «Amerikanisierung» des Arbeitsmarkts, als seien seither nur miese Jobs entstanden. Selbst ein Ausbau der Unterstützung wird in sein Gegenteil verkehrt: Werden Sozialleistungen verbessert und erhalten diese dann mehr Menschen, ist auch dies nur Indiz für eine wachsende soziale Schieflage. So ging es mit der Grundsicherung im Alter. Ihre Diskreditierung behindert notwendige Reformschritte, um Menschen in der Altersarmut wirksamer zu helfen, und das steht uns sozialpolitisch massiv im Weg.

Sozialpolitiker können sich mühen, wie sie wollen – das, was sie bewirken, bleibt immer meilenweit hinter den ohnehin widersprüchlichen Erwartungen der unterschiedlichen Anspruchsgruppen zurück. Auch wenn sie nach zähem Ringen eine Reform durchgeführt haben, die Benachteiligten hilft (aber nicht allen, die benachteiligt sind, oder gar allen, die sich für benachteiligt halten), so wird dies öffentlich kaum zur Kenntnis genommen. Sozialverbände, die die Reform seit langem gefordert haben, mögen sich noch in einer Pressemeldung zu einem verhaltenen Lob durchringen, aber das Erreichte ist dann kaum mehr der Rede wert. Plötzlich ist es nur noch Klein-Klein, nie der große Wurf und immer zu wenig. Wenn die zähe reformerische Alltagsarbeit einen Erfolg verbuchen konnte, rückt das, was Sozialpolitiker bewerkstelligen sollen, wieder in unerreichbare Ferne. Dass sich Politiker in Regierungsverantwortung nicht der leidigen Frage entziehen können, wie die finanzielle Nachhaltigkeit der Sicherungssysteme gewahrt werden kann, scheint ohnehin ihr persönliches Problem zu sein.

Der Untergangsdiskurs hat seit langem die Mitte erfasst, immerhin die Mitte in einem der reichsten Länder der Erde. Verfestigt ist die Wahrnehmung einer stark schrumpfenden oder gar zerfallenden Mittelschicht. Die Bücher, die der Mittelschicht einreden wollen, gerade sie sei es, die – von wem auch immer – ausgebeutet werde, füllen Regale. Das ist aber von der Empirie nicht gedeckt. Der Befund ist keineswegs so eindeutig, wie man angesichts der Debattenlage meinen könnte. Trotz aller Düsternis sagt eine breite Mehrheit bei Befragungen, es ginge ihr sehr gut oder gut. Verbreitet ist jedoch die Angst, die eigenen Kinder könnten den Lebensstandard, den man selbst erreicht habe, nicht halten und würden ihre Position in der Mitte der Gesellschaft verlieren. Man gehöre zur letzten Generation, der es besser gehe als der Generation ihrer Eltern. Dazu passt, dass viele die Einkommensverteilung in Deutschland als weit ungleicher wahrnehmen, als es der Realität entspricht. Mehr als die Hälfte glaubt, in einer Gesellschaft zu leben, in der die meisten Menschen unten stehen.[1] Wer aber sich selbst der Mitte zurechnet und gleichzeitig die Mehrheit unten wähnt, der kann der Angst vor dem Abstieg kaum entkommen. Jede gesellschaftliche Veränderung, die Folgen für das Schichtgefüge haben kann – verstärkter Wettbewerb, die Entwicklung neuer, arbeitssparender Technologien oder Umbrüche im Bildungssystem –, stachelt die Angst an, die vermeintliche Minderheitsposition, die man in der Mitte einnimmt, zu verlieren und in die vermeintlich große Gruppe derer abzurutschen, die unten stehen.

Zukunftsangst vergällt die Lebensfreude. Aber nicht nur das. Verzerrte Wahrnehmungen erschweren eine zukunftsgewandte Politik. Also sollten wir übertriebenen Ängsten entgegentreten. Wenn wir ein innovatives und produktives und zugleich soziales Land in politischer Stabilität bleiben, wird es unseren Kindern nicht schlechter gehen als uns. Das Übermaß an pauschaler Empörung ist zudem auch gefährlich. Wenn das, was der Sozialstaat leistet, schlechtgeredet wird, wenn positive reformerische Schritte als Klein-Klein diskreditiert oder schlicht nicht wahrgenommen werden, ist dies ein massives Problem in der Auseinandersetzung mit populistischen Kräften. Zu ihrer Mobilisierungsstrategie gehört die Verleumdung, die Politik würde sich um «die Belange des Volkes» nicht kümmern.

Im Übrigen hilft der Untergangsdiskurs nicht, die Unterstützung zu mobilisieren, die der Sozialstaat in einer demokratischen Gesellschaft benötigt. Das Lamento des «immer schlimmer» desorientiert und entmutigt. Wenn der Sozialstaat wirklich zum «Suppenküchensozialstaat» verkommen wäre, obwohl wir Jahr für Jahr etwa 30 % unserer Wertschöpfung für ihn ausgeben, ist doch daraus der Schluss zu ziehen, dass der Sozialstaat nicht wirksam sei. Wie werden die Bürger der Mittelschicht darauf reagieren, die die Kosten des Sozialstaats tragen, ja tragen müssen und dies auch in der Differenz zwischen ihren Brutto- und Nettoeinkommen wahrnehmen, die allerdings von diesem Sozialstaat, das darf nicht vergessen werden, ebenfalls stark profitieren? Fordern sie deswegen seinen Ausbau? Nicht zwingend. Wenn der Sozialstaat so wenig wirksam ist, wie in der skandalisierenden Zuspitzung behauptet wird, dann – so ein mindestens ebenso plausibler Schluss – wären die Verhältnisse mit weniger Sozialstaat ja vielleicht auch nicht viel schlimmer als heute.

Niedergangsstimmung ist Gift für jede Reformpolitik. Letztere aber ist dringend nötig. Denn es gibt Risiken, die uns zu Recht Sorgen machen und die Politik und alle gesellschaftlichen Kräfte herausfordern. Es gibt Blockaden in der Sozial- und Bildungspolitik, die höchst ärgerlich sind und an denen eine auch zugespitzte Kritik Not tut. Und natürlich gibt es Menschen, die zu Recht unzufrieden sind. Aber eine Mitte, die sich selbst im Niedergang wähnt, wird für tatsächlich Benachteiligte wenig Empathie entwickeln. Wenn breite Teile der Bevölkerung das Gefühl haben, genau sie wären es, die zu wenig bekommen oder zu viel bezahlen, wird der Druck auf Politiker hoch, vielen eher vage etwas zu versprechen und dabei Erwartungen zu wecken, die letztlich keine Regierung erfüllen kann. Die dann eintretende diffuse Enttäuschung öffnet wiederum populistischen Kräften das Tor. Wer den Zukunftsängsten durch rationale Politik entgegentreten will, darf kein Öl in das Feuer des Niedergangsdiskurses gießen.

Dieses Buch will einen Kontrapunkt setzen. «Deutschland ist gerechter, als wir meinen». Das heißt nicht: Deutschland ist gerecht, hört also auf damit, über Gerechtigkeit zu streiten. Aber wir sollten so sprechen und streiten, dass eine lösungsorientierte Politik befördert wird. Das kann man nur in einer Debatte, die differenziert und sachlich ist. In ihr muss anerkannt werden, was der Sozialstaat leistet und wo er – allem Gerede vom Sozialabbau zum Trotz – auch in jüngerer Zeit ausgebaut wurde. Man muss sich dem Postfaktischen, das sich in der Debatte zum Sozialstaat breitgemacht hat, entgegenstemmen. Das erfordert, nicht allgemein von Gerechtigkeit zu reden, sondern jeweils zu benennen, welche der unterschiedlichen Dimensionen der Gerechtigkeit im jeweiligen Kontext gemeint sind. Dann zeigt sich schnell, wie unterschiedlich und auch widersprüchlich die Vorstellungen darüber sind, was gerecht sei. Und erst dann trennt sich die Spreu vom Weizen, kann unterschieden werden, wer Gerechtigkeit aus gesellschaftlicher Verantwortung einfordert und wer schlicht das für gerecht erklärt, was ihm persönlich nutzt. Erst dann kann aus dem Untergangsdiskurs eine politische Debatte werden, die Handlungsspielräume öffnet.

Es ist mir bewusst, dass es in Deutschland auch Menschen gibt, die – abseits vom Mainstream der Debatte – Gerechtigkeitsdefizite nicht wahrhaben wollen, sei es aus Ignoranz oder einer privilegierten Abgehobenheit. Vielleicht machen wir es ihnen zu leicht. Je...

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