Selektiver Mutismus - Informationen für Betroffene, Angehörige, Erzieher, Lehrer und Therapeuten

Selektiver Mutismus - Informationen für Betroffene, Angehörige, Erzieher, Lehrer und Therapeuten

von: Sigrun Schmidt-Traub

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2019

ISBN: 9783840929274

Sprache: Deutsch

134 Seiten, Download: 3168 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Selektiver Mutismus - Informationen für Betroffene, Angehörige, Erzieher, Lehrer und Therapeuten



2 Faktoren, die zur Entstehung der sozialen Ängstlichkeit und des selektiven Mutismus beitragen

Ein ganzes Bündel von Einflussgrößen führt zur Entstehung einer sozialen Angststörung mit Sprechhemmung: Eine angeborene Disposition zu Angst, Lernen an sozialen Modellen, erzieherische Einflüsse, kognitiver Stil (wie über Informationen und Erfahrungen gedacht wird und wie sie verarbeitet und genutzt werden), äußere Lebensbedingungen und spezielle Belastungen. Für einen besseren Überblick über die Entstehung, den Entwicklungsverlauf und die wichtigsten Einflussgrößen, die dabei zum Tragen kommen, wird zwischen verursachenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen des selektiven Mutismus unterschieden (Für einen erweiterten Überblick s. Schmidt-Traub, 2017).

2.1 Verursachende Bedingungen

Menschen mit selektivem Mutismus haben eine genetisch bedingte Bereitschaft zu Angsterleben, die mit Verhaltenshemmung, speziell mit einer ausgeprägten Sprechhemmung, einhergeht. Sie befürchten, beim Sprechen in wenig vertrauter Umgebung zu versagen, da es ihnen an Vertrauen in die eigene Sprechfähigkeit fehlt. Bei ängstlicher Erregung reagieren sie mit Verspannungen der Kehlkopfmuskulatur, sodass es zu sprachmotorischen Einschränkungen beim Sprechen kommt (vgl. hierzu auch „Neuronale und physiologische Grundlagen des Sprechens und des stressbedingten Schweigens“ im Anhang, S. 110).

Die Längsschnittuntersuchungen des Amerikaners Jerome Kagan und seiner Mitarbeiter (Kagan et al., 2009), in denen Neugeborene von den ersten Lebenstagen an über 45 Jahre lang in regelmäßigen Abständen beobachtet wurden, haben gezeigt, dass 17 bis 20 % der Kinder eines Jahrgangs mit einem ängstlich-scheuen Temperament zur Welt kommen, das sie lebenslang beeinflusst. Ein Temperament hat eine gewisse Vorhersagekraft für bestimmte Verhaltensmuster im weiteren Leben und spanne hinweg relativ stabil bleibt. Verhaltensstile weisen bestimmte Merkmale auf (wie Reaktionstempo, Ausdauer, Empfänglichkeit für Stimmungen und Gefühle).

Menschen mit einem ängstlich-scheuen Temperament sind empfindsamer, schreckhafter und ängstlicher als Gleichaltrige mit einem anderen Temperament. In der Regel liegt bei einem der biologischen Eltern (oder einem anderen nahen Verwandten) ein vergleichbares Temperament vor (Subellok et al., 2010; Bahrfeck-Wichitill et al., 2011). Bei ängstlichen Kindern dürfte es mehrheitlich die Mutter sein, da Ängste bei Frauen doppelt so häufig vorkommen wie bei Männern. Ängstlich-scheue Kinder sind gehemmter als ihre Altersgenossen. Sie neigen dazu, unklare und unbekannte Situationen negativer zu bewerten als nichtängstliche Personen und gehen ihnen möglichst aus dem Weg.

Mittlerweile sind einige der genetischen Grundlagen der Angst bekannt. Die Bereitschaft, vermehrt Angst zu erleben, ist angeboren. Dennoch lässt sich nicht vorhersagen, ob ein Kind mit ängstlich-scheuem Temperament künftig eine Angststörung oder selektiven Mutismus entwickeln wird. Das hängt im Wesentlichen von der Erziehung und von weiteren, teils unabsehbaren Milieueinflüssen ab.

Das erzieherische Vorgehen der Eltern trägt wesentlich dazu bei, das Angstrisiko eines Kindes zu vergrößern oder zu verringern (vgl. Kap. 2.2 und Kap. 2.3; Schmidt-Traub, 2015). Überbehütende Eltern ermahnen ihre Kinder viel, besonders vorsichtig zu sein; das kann auch verunsichernd auf das Kind wirken. Einige erklären ihren Kindern bei jeder Gelegenheit, wie schlecht die Welt ist und wie viel Unheil in ihr droht. Damit fördern sie eine tendenziell pessimistische Sicht der Welt und den Möglichkeiten des Kindes, auf Missstände Einfluss zu nehmen. Seltener sind die Eltern von ängstlichen Kindern ausnehmend streng und erziehen sie in einem Klima der Angst. Es gibt auch Eltern, die ihre Kinder einfach machen lassen und sie kaum darin unterstützen, die Angst zu überwinden und den Alltag eigenständig zu bewältigen.

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