Soziale Ängste - Therapieprogramm für Kinder und Jugendliche mit Angst- und Zwangsstörungen (THAZ) - Band 2

Soziale Ängste - Therapieprogramm für Kinder und Jugendliche mit Angst- und Zwangsstörungen (THAZ) - Band 2

von: Hendrik Büch, Manfred Döpfner

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2011

ISBN: 9783840919893

Sprache: Deutsch

299 Seiten, Download: 4579 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Soziale Ängste - Therapieprogramm für Kinder und Jugendliche mit Angst- und Zwangsstörungen (THAZ) - Band 2



Kapitel 1 Grundlagen

1.1 Soziale Angst

im Kindes- und Jugendalter Obwohl zur Behandlung von sozialen Ängsten im Kindes- und Jugendalter eine Reihe gut evaluierter kognitiv-behavioraler Gruppentherapieprogramme vorliegen, gibt es über das Erscheinungsbild der sozialen Angst bei Kindern und Jugendlichen und deren Ursachen bisher nur wenige gesicherte Erkenntnisse. Generell sind soziale Ängste gekennzeichnet durch intensive Gefühle der Furcht, Aufregung und Unsicherheit in der Gegenwart anderer, nicht vertrauter Personen oder in der negativen Erwartung an die eigenen sozialen Fähigkeiten im Umgang mit fremden Menschen.

Die Betroffenen sorgen sich um die Angemessenheit ihres Verhaltens und befürchten, ihre Angst könne von den anderen bemerkt werden. Sie haben Angst davor, lächerlich und inkompetent zu wirken oder von anderen bloßgestellt und gedemütigt zu werden. Als Folge davon tritt bei sozial ängstlichen Menschen ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten auf – die Betroffenen neigen dazu, sich potenziell angstauslösenden Situationen gar nicht erst auszusetzen.

Zu solchen Situationen zählen z. B. Prüfungssituationen, das Sprechen, Schreiben oder Essen in der Öffentlichkeit, Treffen mit anderen Personen (insbesondere mit Personen des anderen Geschlechts), das Äußern von Kritik sowie die Selbstbehauptung und alle Formen des Auftretens in der Öffentlichkeit.

Schon der Gedanke an die bevorstehende Situation kann soziale Angst auslösen. Nach Beidel und Turner (1998) unterscheiden sich die angstauslösenden Situationen bei Kindern und Jugendlichen nur geringfügig von den bei Erwachsenen relevanten Situationen. In einer Studie von Beidel, Turner und Morris (1999) benennen die meisten der untersuchten Kinder mit klinisch relevanten sozialen Ängsten im Alter von 7 bis 13 Jahren das Sprechen vor anderen (z. B. Vorlesen, Rede halten) als eine besonders schwierige Situation (71 %), gefolgt von der Situation, vor anderen etwas vorzuführen (z. B. im Sport) (61 %) und mit Erwachsenen zu sprechen oder sich an einem Gespräch zu beteiligen (jeweils 59 %). In einer ähnlichen, von Essau, Conradt und Petermann (1998) durchgeführten epidemiologischen Untersuchung bewerteten 12- bis 17-jährige, sozial ängstliche Jugendliche am häufigsten das Mitwirken an einer Aufführung oder die Teilnahme an einem Test als die schwierigste Situation (31,1 %). Den zweiten Platz in der Angsthierarchie nimmt in dieser Untersuchung das Sprechen in der Öffentlichkeit ein (19,7 %), gefolgt von der Unterhaltung mit anderen Personen (9,2 %).

Systematische Angst-Tagebuch-Auswertungen ergaben, dass problematische Ereignisse bei den sozial ängstlichen Jugendlichen nahezu täglich auftraten. Die meisten Situationen betrafen dabei die Inter aktionen mit Gleichaltrigen (Beidel & Randall, 1994; Beidel et al., 1999). Nach eigenen klinischen Erfahrungen zeigen sich soziale Ängste bei Kindern auch in informellen Situationen. So haben viele Kinder Angst, in der Pause andere Kinder anzusprechen oder sich ihnen zum Spielen anzuschließen. Die soziale Angst zeigt sich auf drei verschiedenen grundlegenden Erfahrungsebenen: Auf physiologischer Ebene reagiert die Person z. B. mit einem erhöhten Erregungsniveau, auf kognitiver Ebene stellt sich die Angst in Form von negativer Bewertung und negativer Selbsteinschätzung dar, und auf der Verhaltens ebene werden die problematischen Situationen vermieden (vgl. Schowalter, 2001).

Bis zu einem gewissen Ausmaß können sich soziale Ängste bei Kindern und Jugendlichen durchaus positiv auf die weitere Entwicklung und die Interaktion mit ihrer Umwelt auswirken. So fanden Schwartz, Snidman und Kagan (1996), dass sozial ängstliche Kinder weniger aggressive, impulsive und antisoziale Verhaltensweisen zeigen. Sie sind in ihrem Verhalten relativ angepasst und regelorientiert und bringen – im Unterschied etwa zu hyperkinetischen Kindern – Erwachsene nicht unter unmittelbaren Handlungsdruck. Darüber hinaus betrachten Eltern die Ängste und Unsicherheit ihrer Kinder vielfach als ein normales Entwicklungsstadium auf dem Weg zum Erwachsenwerden, das keiner besonderen Behandlung bedarf (Beidel & Turner, 1998).

In der Tat stellen die vielfältigen sozialen und Bewertungssituationen, denen insbesondere Jugendliche im täglichen Leben ausgesetzt sind, bei der Mehrzahl aller Jugendlichen nur vorübergehend einen Grund zur Besorgnis dar. Gerade dadurch, dass sie in der Schule, im Freundeskreis oder bei anderen Gelegenheiten ständig sozialen Anforderungen ausgesetzt sind, erwerben die Jugendlichen in dieser Phase ihres Lebens in der Regel wichtige soziale Fertigkeiten und Kompetenzen, durch die sie eine größere Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von ihren Eltern erlangen.

Bei einigen Kindern und Jugendlichen können die sozialen Ängste jedoch ein solches Ausmaß annehmen, dass damit keine wertvollen Lernerfahrungen mehr verbunden sind, sondern sich im Gegenteil diese Ängste sehr negativ auf den emotionalen Zustand, die schulischen Leistungen und auf die sozialen Beziehungen in und außerhalb der Familie auswirken.

La Greca und Lopez (1998) ermittelten an einer Stichprobe von 250 amerikanischen Schülern zwischen 15 und 18 Jahren einen negativen Zusammenhang zwischen sozialer Angst und der Akzeptanz bei Gleichaltrigen. Die sozial ängstlichen Mädchen gaben darüber hinaus an, weniger Freunde zu haben und erlebten ihre Freundschaften als weniger intensiv als Mädchen mit geringerer sozialer Angst. Die sozial ängstlichen Jungen fühlten sich weniger unterstützt und weniger kompetent im Umgang mit Gleichaltrigen. Die durch die hohe Angst bedingte Vermeidung der Interaktionen mit Gleichaltrigen hat zur Folge, dass Freundschaften und soziale Kompetenzen nur begrenzt aufgebaut werden. Dies fördert ein negatives Selbstbild (Rubin et al., 2003; Rubin et al., 1990) und kann langfristig Depressionen verursachen (z. B. Chavira et al., 2004). Die empirischen Befunde zeigen, dass soziale Ängste die Entwicklung sozialer Fertigkeiten und Kompetenzen behindern und dem Aufbau enger sozialer Beziehungen im Wege stehen können. Sie stellen damit ein ernst zu nehmendes Entwicklungsrisiko dar.

Im Folgenden soll der Begriff der sozialen Angst von den mit ihm im Zusammenhang stehenden Konzepten der Schüchternheit, der sozialen Unsicherheit und der Prüfungs- bzw. Schulangst/ Schulphobie abgegrenzt werden. In der Alltagssprache werden diese Begriffe zum Teil auch synonym verwendet.

Schüchternheit

Im alltagssprachlichen Gebrauch wird eine Person als schüchtern bezeichnet, die in einer sozialen Situation etwas Bestimmtes tun möchte, sich aber nicht traut, dies auch zu tun. Als Folge davon tritt die Handlung verzögert oder gar nicht auf (Asendorpf, 1989).

Asendorpf überführt dieses umgangssprachliche Konstrukt in ein klarer operationalisiertes psychologisches Konstrukt, das auf Ergebnissen aus der Persönlichkeitsforschung beruht (vgl. Asendorpf, 1989, 1993, 1998).

Danach liegt der Schüchternheit ein Annäherungs-Vermeidungskonflikt zugrunde: Schüchterne Kinder haben ein ausgeprägtes Interesse an Kontakten zu anderen, weisen aber gleichzeitig eine starke Vermeidungstendenz in sozialen Situationen auf. Als Erklärungsmodell für dieses Konzept führt Asendorpf das neuropsychologische Modell der Angst von Gray (1982) an, welches zwischen einem Annäherungssystem und einem Verhaltenshemmungssystem unterscheidet. Nach Gray reagiert das Verhaltenshemmungssystem schüchterner Menschen in sozialen Situationen sehr stark. Asendorpf unterscheidet Schüchternheit als ‚Gehemmtheit gegenüber dem Unbekannten‘ von der Gehemmtheit aus ‚Angst vor Ablehnung vor Gleichaltrigen‘. Die Schüchternheit als Gehemmtheit gegenüber Fremden ist ein relativ stabiles, bereits ab dem zweiten Lebensjahr diagnostizierbares Merkmal und scheint weitgehend unabhängig von der jeweiligen Lernerfahrung, also z. B. vom Erziehungsstil der Eltern oder vom Ausmaß des Kontaktes zu anderen Menschen zu sein.

Im Falle der Schüchternheit aus Angst vor Ablehnung haben die Kinder aufgrund schlechter Erfahrungen die Erwartung gebildet, dass andere Kinder sie auch in Zukunft ablehnen werden. Diese zweite Form der Schüchternheit beruht also – anders als die erste – auf Lernerfahrungen.

Kategorien

Service

Info/Kontakt