Kritik der Souveränität

Kritik der Souveränität

von: Daniel Loick

Campus Verlag, 2012

ISBN: 9783593412245

Sprache: Deutsch

346 Seiten, Download: 2032 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Kritik der Souveränität



Einleitung

In einer Nacht des Jahres 1876 bekommt Seth Bullock, der Sheriff von Lewis and Clark County, Montana, Besuch von einem Mob aufgebrachter Bürger. Sie fordern die Auslieferung des Pferdediebs Clell Watson, der sich in Bullocks Gewahrsam befindet und im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartet. Es entwickelt sich ein Streit darum, wer den Delinquenten exekutieren darf: Während es der Mob auf Lynchjustiz und die schnelle Vollstreckung der Hinrichtung abgesehen hat, verteidigt Bullock die Zuständigkeit des Staates. Von einer Übermacht zorniger Männer umzingelt, vollstreckt Bullock die Strafe kurzerhand an Ort und Stelle, auf der Veranda des Sheriffbüros: Er legt dem Kriminellen eine Schlinge um den Hals und lässt ihn auf einen Schemel steigen, den er selbst wegtritt. Es gelingt ihm nur, seine eigene Haut zu retten, indem er die wütende Menge mit einem Gewehr in Schach hält - die Autorität des Rechtsstaats hat er jedoch erfolgreich verteidigt.

Für die Gemeinde in Montana ist diese Szene eine Gründungsszene der Souveränität (in einigen Gegenden der USA waren noch bis in die 1880er Jahre nicht überall staatliche Strukturen etabliert), sie ist aber auch emblematisch für die Funktionsweise des modernen Staates insgesamt. Es gibt hier zwei Formen von Gewalt: eine illegitime, unautorisierte, unberechtigte, nicht-sinnvolle Gewalt - die des Pferdediebes und die des Lynchmobs - und eine legitime, autorisierte, berechtigte, sinnvolle Gewalt - die des Sheriffs. Die nackte, vorrechtliche, anarchische Gewalt wird von einer Gegen-Gewalt ersetzt, verhindert und im Zaum gehalten. Diese zweite Gewalt nennt sich auch selbst, nun mit einer aufschlussreichen Polysemie oder Ambiguität, eine Gewalt: eine Staats- oder Rechtsgewalt. Diese legitime Gewalt muss sich in ihrem Ergebnis von der illegitimen weder quantitativ noch qualitativ unterscheiden. Dass Watson ein Recht hat, vom Sheriff und nicht vom Lynchmob gehängt zu werden, wird ihm in der konkreten Situation von nachrangiger Bedeutung erschienen sein. Das Strafmaß, das ein ordentliches Gericht über Watson verhängt hatte, war genauso hoch wie dasjenige, das der Lynchmob vorsah, und es ist auf dieselbe Weise vollstreckt worden (oft imitieren und wiederholen die Agent_innen des Rechts die Verhaltensweise der Verbrecher_innen, oft übertreffen die juridischen Prozeduren und Strafrituale sie an grausamer Kreativität). Der Unterschied, der über die Legitimität oder Illegitimität einer Gewalt entscheidet, ist zunächst ein symbolischer: wer den Sheriffstern trägt. Der Besitzer des Sheriffsterns verfügt über Zugang zu einer höheren Autorisierungsquelle, die ihn im Namen Gottes, des Naturrechts, der Vernunft oder des Volkes zur Ausübung von Gewalt lizensiert.

Der status civilis wird also weiterhin von Verkehrsformen bestimmt, die auch schon den status naturalis geprägt haben. Man kann dies ein Gesetz der Ironie nennen: Indem sich die Gesellschaft von den rohen, wilden Interak­tionsweisen der Natur freizumachen glaubt, handelt sie sich unbewusst genau die gleichen Interaktionsweisen wieder ein. Als ironisch haben Horkheimer und Adorno den Prozess der Aufklärung verstanden: Ausgerechnet die Mittel, welche die Menschen aus dem übermächtigen und bedrohlichen Naturzustand herausführen sollten, haben ihn nur verlängert; und wo immer sie sich aufgeklärt und vernünftig wähnen, verstricken sie sich weiter in den Mythos. 'Die Absurdität des Zustandes', schreiben Horkheimer und Adorno in ihrem gemeinsamen Hauptwerk, 'in dem die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt, denunziert die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet.' (Horkheimer und Adorno 1997 [1944]: 38) Was die Verfasser der Dialektik der Aufklärung für die Geschichte der instrumentellen Rationalität gezeigt haben (und was Marx zuvor für die Geschichte der Ökonomie demonstrierte), gilt auch für die Geschichte des Politischen. Der zivilisatorische Fortschritt, den die Menschen einem rohen und unregulierten Natur- und Kriegszustand abgetrotzt zu haben glauben, war immer wieder auch durch eine Ratifizierung und legitimatorische Veredelung natur- und kriegszustandstypischer Verhaltensweisen erkauft. Die mit Sheriffstern signierte Gegengewalt bleibt eine Gewalt: Auch wenn sich die phänomenologische Affinität der Praktiken von Unrecht und Recht selten so deutlich offenbart wie im Beispiel Seth Bullocks.

Wer die zweite Gewalt kritisiert, muss dabei freilich die erste nicht gutheißen. Wer den Sheriff abschaffen will, verteidigt, verharmlost, rechtfertigt oder unterstützt nicht die Pferdediebe oder den Lynchmob (genauso wenig wie Marx zum Feudalismus zurück wollte oder Horkheimer und Adorno zum Mythos). Denn aus dem Scheitern des Versuches, gewaltbasierte Interaktionsformen zu verlassen, lässt sich nicht folgern, dass schon der Versuch falsch gewesen wäre. Gewalt ist nicht selbstverständlicher Bestandteil einer anthropologischen conditio humana, einer natürlichen oder gottgewollten Ordnung. Aber der geringe Erfolg, den die Politik bei der Einhegung der Ge­walt bislang erzielt hat, legt eine Überprüfung ihrer Mittel nahe - und zuerst eine Überprüfung des Axioms, die vorstaatliche Gewalt lasse sich nur selbst durch Gewalt bekämpfen.

Für eine solche elementare Reflexion auf die Grundlagen des Politischen scheinen sich gegenwärtig neue Bedingungen zu ergeben: Die Eule der Minerva beginnt, um eine beliebte Redewendung Hegels zu zitieren, in der Dämmerung ihren Flug. Mit dem spezifischen Nationalstaatsmodell, das von Europa seit der frühen Neuzeit in die ganze Welt exportiert wurde, beginnt auch ein epistemisches Regime brüchig zu werden, das den Diskurs um die Zukunft der politischen Formen wesentlich begrenzt hatte. Die realen politischen Transformationsprozesse der Gegenwart - etwa die wirtschaftliche Globalisierung, die europäische Einigung, Experimente mit internationalem Recht oder nicht-staatlichen Schiedsgerichten - liefern einer theoretischen Neuverhandlung von für das menschliche Zusammenleben so elementaren Kategorien wie der des Gewaltmonopols, der Staatsbürgerschaft oder der territorialen Grenzen überhaupt erst die diskursiven Voraussetzungen. Der souveräne Staat verliert seine Selbstverständlichkeit, neue Reservoirs sozialer Kooperation werden verfügbar, alte Bestände politischen Wissens wieder freigelegt. So ist es mittlerweile ein Gemeinplatz, dass im Zuge der Globalisierung die politisch-juristischen Institutionen des Einzelstaates in die Krise geraten sind; angesichts der globalen ökonomischen Interdependenzen scheint es evident, dass Aufgaben wie Friedenssicherung, Ökologie, eine gerechte Verteilung von Gütern und Ressourcen sowie der Kampf gegen diktatorische und undemokratische Systeme nicht mehr im nationalen Alleingang, sondern nur durch multilaterale Abkommen und stärkere internationale Institutionen gemeistert werden können.

In den letzten Jahrzehnten ist es außerdem zu beträchtlichen geopoliti­schen Verschiebungen und infolgedessen auch zu einer Reinterpretation des Völkerrechts gekommen. So wird es durch das zunehmend akzeptierte Konzept einer 'responsibility to protect' für einzelne Staaten immer schwieriger, sich gegen äußere Einmischungen mit Verweis auf die eigene Souveränität zu wehren. Diese Tendenz wird dadurch verstärkt, dass durch die Einrichtung internationaler Gerichtsbarkeiten wie den Internationalen Gerichtshof und den Internationalen Strafgerichtshof auch die juristische Immunität von Staaten und Staatsoberhäuptern eingeschränkt ist. Dass mittlerweile auch Individuen eine zumindest teilweise eigenständige Völkerrechtssubjektivität zugesprochen wird, womit sich gegebenenfalls militärische Interventionen bei Menschenrechtsverletzungen völkerrechtlich legitimieren lassen, scheint das Ende der Westfälischen Nichteinmischungsdoktrin endgültig zu besiegeln.

Obwohl also einiges dafür spricht, dass der traditionelle Souveränitätsbegriff staatspraktisch und -theoretisch der Vergangenheit angehört, ist es auffallend, dass viele der Diskussionen um die rechtliche Struktur einer neuen Weltordnung - und zwar hinein bis in die Debatten um in hohem Maße kooperative und nichthierarchische Modelle wie das der Global Governance - mindestens implizit noch von den imaginativen und legitimatorischen Ressourcen des neuzeitlichen Souveränitätsbegriffs zehren. Die Dämmerung scheint eher eine Nationalstaats- als eine Souveränitätsdämmerung zu sein. Das zeigt sich schon allein darin, dass zur Gestaltung der 'Weltinnenpolitik' vorwiegend Instrumente wie Militär, Polizei und Strafverfolgung zum Einsatz kommen (sollen), die, wie die vorliegende Untersuchung zu zeigen beabsichtigt, schon im einzelstaatlichen Rahmen nicht funktionieren und deren Sinnigkeit im globalen Maßstab darum mehr als zweifelhaft ist.

Einer kritischen Theorie der Souveränität geht es demgegenüber darum, über die sich zurzeit in Verhandlung befindlichen Alternativen von 'Weltstaat oder Staatenwelt' hinauszudenken. Sie bringt stattdessen die Vermutung in Anschlag, dass nur durch eine grundsätzliche Überwindung konventioneller Formen staatlicher Herrschaft das gesellschaftliche Gewaltaufkommen reduziert, politische Ausgrenzung und Repression vermindert werden können. Weder der Nationalstaat noch die Übertragung nationalstaatlicher Konzepte auf die Ebene der Globalität, etwa durch ein Schritthalten internationaler Institutionen mit den wirtschaftlichen Prozessen der Globalisierung, scheinen vor diesem Hintergrund der Aufgabe gewachsen, jenen Anspruch zu erfüllen, der sich im Politischen ganz wesentlich manifestiert: Konflikte nicht mehr mittels Gewalt, sondern vernünftig zu regeln. Die globale Erschütterung politischer Gewissheiten bietet Gelegenheit und Anlass für eine solche erneute Grundlagenreflexion mit genuiner Praxisrelevanz - und damit die Chance, auf fundamentale Weise wieder Verantwortung für unsere gemeinsame politische Welt zu übernehmen.

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