Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie

Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie

von: Franz Petermann

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783840924477

Sprache: Deutsch

905 Seiten, Download: 8927 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie



1.3 Grundlagen und klinische Praxis

Die Klinische Kinderpsychologie liefert wesentliche Grundlagen zur Planung und Durchführung von kindund familienorientierten Interventionen; aus ihren Befunden lassen sich wirksame Präventionsund Psychotherapiekonzepte entwickeln (vgl. Fonagy et al., 2005) und neue Akzente für die klinische Praxis setzen. Wesentliche Grundlagen der Klinischen Kinderpsychologie stammen aus der Entwicklungspsychologie, wobei entwicklungspsychologische Befunde allein schon durch die differenzierte Beschäftigung mit Entwicklungsabweichungen in der klinischen Praxis eine besondere oder neue Bedeutung erhalten (Schore, 2007). So veränderten wichtige Erkenntnisse der modernen Säuglingsund Kleinkindforschung die Vorstellungen zur frühen Entwicklung und damit zentrale Konzepte der Klinischen Kinderpsychologie (vgl. Kullik & Petermann, 2012; vgl. Kapitel 4 in diesem Band). Die detaillierte Analyse der frühen Mutter-Kind-Interaktion, das Wissen um die Temperamentsentwicklung und die Gedächtnisleistung von Säuglingen und Kleinkindern führt zu einem neuen Verständnis darüber, wie Entwicklungsabweichungen und psychische Störungen entstehen und therapeutisch beeinflusst werden können.

Die Bindungsforschung widmete sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend frühen Beziehungsund Bindungserfahrungen des Kindes sowie deren Auswirkungen auf die weitere Entwicklung und die Gestaltung zukünftiger Beziehungen (Fonagy & Target, 2006). Seit einigen Jahren rückt neben der frühen Mutter-KindBindung auch zunehmend der Einfluss des Vaters oder der Beziehungen zu den Geschwistern, Großeltern, Gleichaltrigen etc. in den Mittelpunkt des Interesses (Rutter, 1998). Vor allem bei jungen Kindern, aber auch im Entwicklungsverlauf ist die Qualität der Beziehung des Kindes zu primären Bezugspersonen entscheidend für die psychische Entwicklung (vgl. Eyberg et al., 1998). In diesem Zusammenhang kommt Interaktionsstörungen eine zentrale Bedeutung zu, die von Schmidt in diesem Buch (vgl. Kapitel 26) dargestellt werden.

Darüber hinaus prägen natürlich auch noch andere Faktoren, wie etwa die sozialen und ökonomischen Bedingungen einer Familie und die Qualität der schulischen Förderung, die Entwicklung eines Kindes. Diese Erkenntnisse haben dazu geführt, dass die Kinderpsychotherapie, aber auch Präventionsprogramme in den letzten Jahrzehnten immer stärker die Familie und Schule, in die Planung und Umsetzung von Interventionen einbezogen haben. Heute existiert eine Vielzahl von kindergarten-, schulund familienbasierten Präventionsund Behandlungsansätzen, die dieser Sichtweise gerecht werden wollen (vgl. Barrett & Ollendick, 2004).

Das Ausmaß und die Form, in dem das soziale Bezugsfeld berücksichtigt wird, hängt vor allem vom Alter der betroffenen Kinder ab; in diesem Kontext ist eine entwicklungsund familienorientierte Intervention gefordert (vgl. Eyberg et al., 1998; Mattejat & Ihle, 2011). Vor allem die familienorientierte Intervention bildet eine wichtige und traditionsreiche Vorgehensweise, die Cierpka in diesem Buch ausführlich behandelt (vgl. Kapitel 44).

Die Entwicklungsprognose eines Kindes hängt vor allem von den Ressourcen des Kindes, den Fördermöglichkeiten der sozialen Umgebung, dem Entwicklungsstand und dem sozialen Kontext ab. Dies verdeutlicht, dass ohne fundierte entwicklungspsychologische und entwicklungspsychopathologische Kenntnisse kaum aussagekräftige klinische Urteile möglich sind. Ein wesentliches Merkmal der Klinischen Kinderpsychologie bildet somit ihre Entwicklungsorientiertheit.

Diese Sichtweise bezieht sich vor allem auf die
• Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen (= Entwicklungspsychopathologie),
• Diagnosestellung (= entwicklungsorientierte Diagnostik) und
• Therapie des Kindes und seiner Familie (= entwicklungsorientierte Interven tion).

Selbstverständlich sollten sich diese Sichtweisen in der klinischen Fallarbeit widerspiegeln (vgl. Petermann, 2009).

Franz Petermann
2 Entwicklungspsychopathologie

Wichtige Fortschritte der Klinischen Kinderpsychologie wurden in den letzten Jahren vor allem durch die Modellvorstellungen der Entwicklungspsychopathologie initiiert. Mit diesem Zugang wird es möglich, nicht nur Störungen zu beschreiben und zu klassifizieren, sondern darüber hinaus die Wege von Entwicklungsabweichungen und psychischen Störungen vom frühen Kindesbis zum Erwachsenenalter nachzuzeichnen (Blanz et al., 2006). Die Entwicklungspsychopathologie unterstreicht die Bedeutung von Längsschnittstudien und die daraus ableitbaren Entwicklungsund Prognosemodelle.

Selbstverständlich ist der allgemeine Anspruch der Entwicklungspsychopathologie, die Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen zu beschreiben und zu analysieren, nicht neu. Jeder Kinderpsychotherapeut erklärt den Familienmitgliedern, „woher“ eine Störung des Kindes kommen könnte; in der Regel fragen die Eltern auch besorgt, welche negativen Folgen aus der aktuellen Problematik noch erwachsen können. Aus einer differenzierten Elternexploration und Familienanamnese lässt sich in der Regel ein „fallbezogenes Entwicklungsund Erklärungskonzept“ einer psychischen Störung ableiten. Klinisches Handeln basiert demnach auf plausiblen, aber vielfach ungeprüften Annahmen über die Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen. Solche Annahmen werden von der Entwicklungspsychopathologie seit gut 25 Jahren intensiv systematisiert und wissenschaftlich überprüft. Darüber hinaus vergleicht man in der Entwicklungspsychopathologie die Entstehung und den Verlauf pathologischer Phänomene mit der normalen Entwicklung (vgl. Kapitel 3 in diesem Band). Viele entwicklungspsychologische Theorien betonen Teilaspekte der kindlichen Entwicklung so einseitig, dass sie den komplexen klinischen Störungsbildern nicht gerecht werden. Neue Theorien versuchen hingegen, die kindliche Entwicklung durch die Interaktion biopsychosozialer Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen zu beschreiben und damit dieser Komplexität gerecht zu werden (Fonagy & Target, 2006). Hierbei erweist sich die emotionale Entwicklung und der Erwerb von sozial-emotionalen Kompetenzen als besonders bedeutsam für die ersten sechs Lebensjahre (Petermann & Wiedebusch, 2008).

Die Entwicklungspsychopathologie beschäftigte sich besonders intensiv mit der Schnittstelle zwischen Biologie und Psychologie. Sie integriert dabei Ergebnisse aus der Entwicklungsneurobiologie, Humangenetik, Klinischen Psychologie, Psychoanalyse und aus sozialwissenschaftlichen Ansätzen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse und empirischen Erträge aus diesen Disziplinen fließen in Modelle ein, mit deren Hilfe man die Entwicklung psychischer Störungen und ihrer Symptome besser beschreiben und erklären kann.

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