Demokratie im Ausnahmezustand - Wie Regierungen ihre Macht ausweiten

Demokratie im Ausnahmezustand - Wie Regierungen ihre Macht ausweiten

von: Matthias Lemke

Campus Verlag, 2017

ISBN: 9783593436326

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 3449 KB

 
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Demokratie im Ausnahmezustand - Wie Regierungen ihre Macht ausweiten



1. Demokratie im Ausnahmezustand
'Das positive Recht kann dem Souverän ... niemals absolute Schranken setzen.'
Hermann Heller
Nachdenken über den Ausnahmezustand kommt an Plettenberg nicht vorbei, seine empirische Analyse schon. Warum? Der viel zitierte Satz aus Carl Schmitts Politischer Theologie, wonach 'Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet' (Schmitt 1922: 11), weist dem Ausnahmezustand einen festen Platz in der Machtarithmetik moderner Staatlichkeit zu. Die dem Ausnahmezustand attestierte Nähe zur Souveränität der Regierung leistet jedoch zu einem vertieften Verständnis seiner Anwendung in repräsentativen Demokratien keinen nennenswerten Beitrag. Schmitts dezisionistische Perspektive, die aus seiner ablehnenden Haltung der liberalen Demokratie gegenüber herrührt, verortet die ?kommissarische Diktatur? in der Exekutive und setzt diese mit dem Souverän gleich. Damit geht Schmitts Theorie an der Verfassungsnorm repräsentativer Demokratien vorbei. Denn nicht die Regierung, sondern die Gesamtheit der Bevölkerung ist souverän, was etwa John Stuart Mill so formuliert:
'Repräsentativverfassung bedeutet, dass das Volk als Ganzes oder doch zu einem beträchtlichen Teil durch periodisch gewählte Vertreter die in jedem Verfassungssystem notwendige oberste Kontrollgewalt ausübt. Diese oberste Gewalt muss ungeteilt in den Händen des Volkes liegen. Es muss jede Regierungshandlung nach Belieben kontrollieren können. [...] Verfassungsregeln werden eingehalten und funktionieren in der Praxis nur, solange sie im Rahmen der Verfassung derjenigen Macht die Herrschaft sichern, die auch in der Verfassungswirklichkeit die stärkste ist. Diese Macht ist ... die Macht des Volkes.' (Mill 1861: 86)
Dem souveränen Volk gegenüber ist die Exekutive - als von eben diesem Souverän (vgl. klassisch Bodin 1583: 122, 213 ; Jellinek 1960: 481f. ) beauftragter und legitimierter Agent - begründungspflichtig. Für eine solche, demokratisch wie rechtlich eingehegte Beziehung von Souverän und Exekutive ist diese Konstellation folgenreich: Aus dem Primat der Begründung entsteht eine aktiv eingebundene politische Öffentlichkeit (vgl. Habermas 1981, 1992), die sich als Raum rechtfertigender Plausibilisierung konstituiert. In diesem Raum erfolgt eine permanente Artikulation von und Auseinandersetzung mit politischen Belangen.
Der Ausnahmezustand, eine kriseninduzierte Expansion der Exekutivkompetenzen unter Inkaufnahme von Normsuspendierungen (vgl. Lemke 2012a: 308; Förster/Lemke 2015; Ferejohn/Pasquino 2006; Manin 2015), verändert in der Regierungspraxis das Macht- und Kompetenzgefüge zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer, also zwischen Souverän und Exekutive, zugunsten des Auftragnehmers. Da der Exekutive ein Mehr an Macht zugestanden wird, was gleichzeitig mit einem Weniger an Kontroll- und Freiheitsrechten auf Seiten des Souveräns einhergeht, entsteht, parallel zur Erklärung des Ausnahmezustandes und wegen der damit einhergehenden Verschiebung des Machtgefüges, ein erhöhter Plausibilisierungsdruck. Die Regierung, die als Verfassungsorgan über die Ausrufung eines Ausnahmezustandes entscheidet, muss ihre Entscheidung öffentlich nachvollziehbar und legitim erscheinen lassen. Trifft sie solche Entscheidungen, werfen diese eine Vielzahl von Fragen auf: Wie weit kann und darf eine demokratisch legitimierte Regierung gehen, um sich selbst und die Verfassungsordnung zu erhalten (vgl. Friedrich 1961; Lemke 2013: 185f.)? Wie ist die Existenz von Phasen außergewöhnlicher Exekutivkompetenzen jenseits geltender demokratischer Verfassungsnormen, noch dazu unter Umgehung legislativer Institutionen, plausibilisierbar? Welche demokratische Qualität ist einer Regierung beizumessen, die sich in ihrer Praxis zunehmend dem Exzeptionellen (vgl. Neal 2010) zuwendet? Diesen für das Selbstverständnis repräsentativer Demokratien als Rechtsstaaten zentralen Grenzfragen geht diese Studie nach.
1.1 Gegenwartsdiagnose
Wir reden immer häufiger über den Ausnahmezustand. Seit seinem erstmaligen Auftreten im deutschsprachigen Raum 1822 - zumindest soweit dieser durch retrodigitalisierte Literaturbeständen von Google erfasst worden ist - ist ein linearer Anstieg seiner Verwendung zu verzeichnen:
Dieser Befund ist keineswegs bloßer Artefakt deutschsprachiger Literatur. Im englischen Korpus des Google Books Project findet sich folgende Frequenz zum Trigramm ?State of emergency?, die erst gut hundert Jahre nach dem erstmaligen Auftreten des deutschen Unigramms Ausnahmezustand - nämlich im Jahr 1925 - einsetzt :
Und so sieht der Befund für Frankreich aus, wo der ?état d'exception? erstmalig 1788 auftritt und markante Spuren rund um die Zeit des Algerienkrieges hinterlassen hat:
Es gab und gibt offenbar viel über den Ausnahmezustand zu besprechen. Wie aber sind die Kontextbedingungen beschaffen, durch die moderne repräsentative Demokratien offenbar so sehr unter Druck gesetzt werden, dass das Exzeptionelle in zunehmendem Maße Einzug in die alltägliche Regierungspraxis hält? Obwohl die Instrumentarien zur Durchsetzung von Recht und Sicherheit in Händen der Regierungen beständig technisch verbessert und ausdifferenziert werden, ändert sich nichts daran, dass die Welt zunehmend unregierbar, instabiler und unsicherer zu werden scheint. Trotz der Expansion der Fähigkeiten zur Krisenintervention nehmen die Potenzialität der Krisen und die Bereitschaft zum Regieren im Ausnahmezustand zu. Diese Dauerdynamiken (Herfried Münkler) des frühen 21. Jahrhunderts sind sozialwissenschaftlich breit diskutiert worden. Während Hartmut Rosa (2005) den Aspekt der ständigen Beschleunigung als zentrales Merkmal der Gegenwart hervorgehoben hat, ist es bei Pierre Bourdieu die primär sozial verstandene, sich gleichwohl aber politisch destabilisierend auswirkende Prekarität: 'La précarité est aujourd'hui partout' (Bourdieu 1998: 95) - so lautete der Titel eines Vortrages, in dem er eine Gegenwart voll von Unsicherheit, Fragilität, Verletzlichkeit und Instabilität skizziert. Nimmt man noch stärker politikwissenschaftlich akzentuierte Diagnosen hinzu, dann entsteht ein komplexes Mosaik, das die Welt als einen verworrenen, überkomplexen, als einen bedrohlichen Ort erscheinen lässt. Selbst demokratische Standards, wie etwa Partizipations- oder Freiheitsrechte werden, so scheint es, immer weiter zu Gunsten erweiterter Handlungskompetenzen der Exekutive beschnitten (vgl. Hühnert 2016). Diese Degeneration des demokratischen Ideals hin zur Postdemokratie (vgl. Crouch 2008: 10 ) wird von einer weitreichenden Verfügbarkeit von Hochtechnologie begleitet. Die hochgradig entwickelte wissenschaftliche, technische, sowie industrielle Beherrschung der Natur bis in die kleinsten Zellstrukturen hinein birgt diverse neue Risiken (vgl. Beck 1986), die ihrerseits den erreichten Fortschritt konterkarieren können. Das Zeitalter reflexiver Modernisierung (Beck), in dem Informationen und Waren global verfügbar und Wirtschaft und Politik global verflochten sind und in dem sich komplexe Muster netzwerkartiger Kommunikation und supranationaler Legislativkompetenz in bisher nicht gekanntem Maße entwickeln und ausweiten, wird paradoxer Weise immer weniger beherrschbar. Vielmehr zeigt sich eine 'Entzauberung' (Weber 2010: 488) des von Politik und Staat verheißenen Ordnungs- und Sicherheitsparadigmas (vgl. Zimmer 2007: 197ff.). Die moderne, hochkomplexe staatliche Ordnung erweist sich trotz aller Sicherheits- und Regelungsmechanismen als fragiler denn je. Aus dem vermeintlichen Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) ist somit eine Renaissance der Bedrohung, zumindest aber des Risikos geworden, angesichts derer auch demokratisch legitimierte Regierungen zunehmend aus Routinen der Rechtstaatlichkeit ausbrechen und sich zu einem situativen Management of the Unexpected (vgl. Weick/Sutcliffe 2010) gezwungen sehen. Auf politischer Ebene zieht die Reflexivität der Moderne eine sich zunehmend entroutinierende Praxis des Regierens nach sich. Diese entzieht sich in all ihrem Krisenmanagment immer mehr der durchgängigen Selbstbindung an rechtliche Normen.
Die medial wahrnehmbaren Auswüchse der trotz aller Vernetzung und Kontrolle zunehmend prekärer werdenden Weltgesellschaft muten anarchisch bis chaotisch, im schlimmsten Fall vollkommen sinnentleert an. Die Realität einer in jeglicher Hinsicht heiklen Welt reicht von einer mittlerweile weit über ein Jahrzehnt andauernden Renaissance des Terrorismus als 'reinem Ereignis' (Baudrillard 2002: 11) bis zur Kommerzialisierung von Orientierungsangeboten in Folge der erodierten Bindungskraft der Métarécits (Jean François Lyotard) . 'Instabilität ist die neue Stabilität', auf diese paradoxe Formel hat Naomi Klein (2007: 604) ihre Gegenwartsdiagnose verdichtet. Politikwissenschaftlich ausgedrückt lautet die Konsequenz einer solchen stabilen Fragilität wie folgt: Der von der Exekutive deklarierte Ausnahmezustand als Teilsuspendierung von Normgefügen greift trotz aller Regelungsbemühungen von Legislativinstanzen immer weiter um sich. Und trotz dieses Rückgriffes auf ein politisches Wunder (Carl Schmitt) gelingt es den Regierungen der Welt immer weniger, den ihnen zur Gestaltung aufgegebenen Rechtsraum tatsächlich auszufüllen und aufrecht zu erhalten (vgl. Rossiter 1948; Friedrich 1961). Die permanente parallele Existenz roter und grüner Zonen (Klein) erzeugt aus einer verwirrenden Vielheit echter und vermeintlicher Bedrohungen ein multiples, permanentes Spannungsfeld (vgl. Klein 2007: 539ff.). Gesellschaftliche Fragmentierung, Staatsversagen und der Zerfall politischer Ordnungsmodelle bei gleichzeitig steigender Integration in suprastaatliche Entscheidungsstrukturen und zunehmender Vernetzung der Weltgesellschaft erscheinen als die sichtbaren, nur schwer interpretierbaren Konsequenzen dieser Entwicklung.
Ist diese neue Instabilität, die Klein diagnostiziert, aber wirklich so neu? Hat es denn jemals eine nachhaltige Stabilität in Form staatlich garantierter Herrschafts- und Ordnungsmodelle gegeben? Solange Politik als Kontingenzbewältigung verstanden werden kann, die noch dazu in einer pluralistisch verfassten Welt immer wieder neu hervorgebracht werden muss, kann diese Frage nur verneint werden. Wie gehen repräsentative Demokratien mit permanent möglicher, aber nicht notwendiger Instabilität um, insbesondere dann, wenn sie insgesamt als zunehmend und noch dazu als zunehmend bedrohlich wahrgenommen wird? Kleins Diagnose einer stabilen Instabilität mündet mit Blick auf die Krisenreaktionsfähigkeit repräsentativer Demokratien in der Annahme, dass Praktiken des Ausnahmezustandes zur Routine gegenwärtiger Politik avancieren. Nur im Ausnahmezustand, wäre demnach noch eine nachhaltige machtpolitische Praxis - und für die repräsentative Demokratie ist zu ergänzen: jenseits - souveräner Macht möglich. Das Verhältnis von 'Rechtsstaat und Ausnahmezustand' (vgl. Frankenberg 2010) zeigt eine Tendenz zugunsten des Letzteren.
Der Ausnahmezustand als Verrechtlichung des 'getting things done' (Rossiter 1948: 21) spiegelt das Bemühen der Exekutive, das Kontingente, das Unerwartete, die Krise - und alles, was als solches konstruiert wird - mit aller Macht handhabbar zu machen. Dabei geht es um die Rückgewinnung von Kontrolle. Nur wenn die Exekutive sich als fähig beweist, jedwede Herausforderung in den Griff zu bekommen, so die dominante Hintergrunderzählung dieser Haltung, ist sie legitim. Politische Legitimität ist damit eng an Funktionalität und Reaktionsfähigkeit, die wiederum über den Grad der Verfügbarmachung von Handlungsmacht bemessen wird, gekoppelt. In den repräsentativen Demokratien der Moderne kann der praktische Nachweis dieser archaisch-existenziellen Reaktionsfähigkeit der Exekutive durch teilweise Suspendierung rechtsstaatlich garantierter Normen im Ausnahmezustand erbracht werden. Gerade durch diese Verknüpfung von Legitimität und Exekutivexpansion gewinnt das Instrument des Ausnahmezustandes innerhalb des Kontextes legitimen politischen Handelns zunehmend an Bedeutung. Hellers (1927: 16) Beschreibung einer nie gänzlich einzuhegenden Souveränität, die er als Pouvoir constitué (Sieyès) konzipiert, sieht sich in den repräsentativen Demokratien der Gegenwart, die zunehmend bereit und in der Lage sind, auf Ausnahmekompetenzen zurückzugreifen, mehr und mehr bestätigt.
Rechtslogisch betrachtet ist die Exekutivexpansion, die den Ausnahmezustand als Ausdruck machtpolitischer Handlungsfähigkeit ausmacht, ohne die Existenz eines staatlichen Ordnungsrahmens nicht denkbar. Der Ausnahmezustand besteht in der Suspendierung eines Teiles des staatlichen Rechtsgefüges, er setzt dieses im Moment seiner eigenen Ausrufung also voraus. Für Carl Schmitt wurde der Machtpragmatismus im Ausnahmezustand gar zu dem politischen Begriff schlechthin, denn: 'Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.' (1963: 20). Der Ausnahmezustand bedarf eines ihm vorgelagerten, souverän garantierten Rechtsgefüges, das wegen seiner vorausgesetzten Existenz überhaupt erst suspendiert werden kann. Eine (Teil-)Suspendierung des Rechtsgefüges durch die Exekutive (die in der repräsentativen Demokratie eben nicht souverän ist) wäre aus Schmitts Perspektive damit kaum weiter zu problematisieren, sondern lediglich ein möglicher Ausdruck politischer Macht.
Dass hier indes ein fundamentales (rechts-)politisches Problem vorliegt, wird schnell deutlich, wenn man sich die Akteurskonstellation vergegenwärtigt. Primär betroffen von der Herstellung einer Situation, in der eine möglichst weitreichende Handlungsfähigkeit der Exekutive besteht, ist die Bevölkerung. Denn der mit dem Rechtsgefüge etablierte Ordnungsrahmen bindet die Bürger in einen rechtlichen Rahmen ein. 'Der Staat', so Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft (2010: IX.8, §2),

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