Psychische Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter - Exzessives Schreien, Schlaf- und Fütterstörungen

Psychische Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter - Exzessives Schreien, Schlaf- und Fütterstörungen

von: Margarete Bolten, Eva Möhler, Alexander von Gontard

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783840923739

Sprache: Deutsch

181 Seiten, Download: 12120 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Psychische Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter - Exzessives Schreien, Schlaf- und Fütterstörungen



Bei der „Fütterstörung der reziproken Interaktion“ wirken Mütter abwesend und wenig freudig, sie gehen nicht auf die Signale des Kindes ein, der gegenseitige Austausch von Lauten, Blicken und Körperkontakt ist gestört. Es kann zum Abbruch der Füttersituation, wie auch forciertem Füttern kommen. Fehlende Gewichtszunahme und Deprivationszeichen sind mögliche Folgen beim Kind.

Andere Kinder werden als wach, neugierig und motorisch aktiv beschrieben. Sie werden leicht durch äußere Reize abgelenkt, sind an Spielen und Exploration interessiert, jedoch durch das Essen gelangweilt. Schlafstörungen und Wutanfälle können auftreten. Das Hauptsymptom des fehlenden Appetits spiegelt sich in dem Namen „Frühkindliche Anorexie“ wieder. Mütter versuchen, ihre Kinder mit Spielen abzulenken oder sie mit Belohnungen zu bestechen. Die kindliche Nahrungsverweigerung ist jedoch oft hartnäckig und führt zu eskalierenden Auseinandersetzungen. In der Folge zeigen auch diese Kinder Gewichtsund Wachstumsprobleme.

Manche Kinder bestehen darauf, nur eine beschränkte Auswahl von Nahrungsmittel zu essen, die durch eine bestimmte Farbe, Geschmack, Geruch, Konsistenz oder sogar Marke gekennzeichnet ist. Während die bevorzugten Nahrungsmittel problemlos gegessen werden, verweigern sie hartnäckig alle anderen, vor allem neue, empfohlene Nahrung. Es kann zu spezifischen Ernährungsdefiziten und zu Eltern-Kind-Konflikten durch dieses hartnäckige Bestehen auf bestimmte Nahrungsmittel kommen. Diese Störung wird deshalb als „Sensorische Nahrungsverweigerung“ bezeichnet.

Für Kinder mit chronischen Erkrankungen kann die Fütterund Esssituation sehr belastend sein. Sie sind beim Füttern gequält, haben Atemnot oder Schmerzen und brechen bei zunehmendem Stress das Füttern ab. Gedeihstörungen sind ebenfalls bei dieser „Fütterstörung assoziiert mit medizinischen Erkrankungen“ möglich.

Wiederum andere Kinder zeigen eine anhaltende Verweigerung von Flaschennahrung, fester oder sogar jeglicher Nahrung. Schon beim Hinsetzen oder beim Anbieten von Nahrung wirken sie gestresst und wehren sich. Sie schieben das Essen beiseite oder spucken es aus. Die Fütterund Essenssituation ist angstbesetzt als Folge eines vorangegangenen traumatischen Erlebnisses, wie Würgen, Verschlucken, Absaugen oder der Sondenernährung. Diese Störung wurde früher „Posttraumatische Fütterstörung“ genannt, neuerdings wird sie als „Fütterstörung assoziiert mit Insulten des Gastrointestinaltraktes“ bezeichnet.

Diese Liste möglicher Fütterund Essstörung ist nicht vollständig. Wie im nächsten Abschnitt („Definition und Klassifikation“) dargelegt, gibt es im Schulalter eine Reihe von atypischen Essstörungen, die auch bei Vorschulkindern auftreten können. Manche Kinder verlieren den Appetit im Rahmen einer depressiven oder Angststörung, obwohl sie gerne zunehmen würden. Dies wird als „Emotionale Störung mit Nahrungsvermeidung“ bezeichnet. Andere Kinder zeigen eine objektbezogene Angst, d.h. eine selektive Phobie vor bestimmten Nahrungsmitteln, ohne dass unbedingt ein dramatisches Ereignis vorangegangen sein muss. Diese Störung wird als „Nahrungsphobie“ bezeichnet. Andere Kinder haben beim Schlucken Schwierigkeiten, vor allem von festen Nahrungsmitteln und vermeiden deshalb die Nahrungsaufnahme. Wenn organische Ursachen ausgeschlossen wurden, wird dies als „Funktionelle Dysphagie“ bezeichnet. Schließlich kann die Essensverweigerung eine primär aggressive Handlung darstellen. Dann ist sie eher als ein Teilsymptom im Rahmen einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten zu werten. Die Nahrungsverweigerung ist dabei nur eines von vielen „Schlachtfeldern“, auf denen ein oppositionelles Verhalten gezeigt wird. Eskalierende Interaktionskonflikte sind dabei typisch für diese oppositionelle Form der Nahrungsverweigerung.

Die Kenntnis der speziellen Symptomatik ist für eine exakte Diagnosestellung wichtig. Diese wiederum ermöglicht erst eine wirksame Therapie. Die spezifische Symptomatik sollte deshalb genau in der Anamnese erfragt und in einer Fütterund Essensituation beobachtet werden.

1.3 Definition und Klassifikation

Die Diagnose „Regulationsstörung“ wurde im deutschen Sprachraum gemäß der S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie als übergeordnete Hauptkategorie für Störungen des Schreiens, des Essens, des Schlafens und der Affektregulation im Kleinkindalter propagiert (Deutsche Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2007). Dabei wurde eine Vielzahl von Symptomen und Problembereichen aufgeführt, deren Abgrenzung zu normalen Entwicklungsvariationen kaum möglich ist. Zudem wurden die Symptome, wie Spielunlust, chronische Unruhe, exzessives Klammern, exzessives Trotzverhalten, aggressiv oppositionelles Verhalten, Freudund Interesselosigkeit nicht eindeutig nach Schweregrad unterschieden. Letztendlich handelte es sich dabei um eine Mischung von Symptomen, die nicht empirisch gestützt, zu einer Störungskategorie zusammengefasst wurden. Es muss also kritisch hinterfragt werden, ob es sich bei diesem Konstrukt tatsächlich um eigenständige Störungen oder um begleitende und belastende Symptome handelt. Schlafund Fütterstörungen sind ohne Zweifel zu den klinisch relevanten Störungen zu rechnen. Beim exzessive Schreien, welches auf die ersten 3 Lebensmonate limitiert bleibt, ist eher von einem belastenden Symptom mit geringer langfristiger Störungsrelevanz zu sprechen. Entsprechend grenzt das Klassifikationssystem Zero-to-Three (National Center for Infants, 2005) die Störungsbereiche Schlafen und Füttern von den „Regulationsstörungen der sensorischen Verarbeitung“ ab, die als Reizverarbeitungsstörungen konzeptualisiert wurden.

Nach den neuen interdisziplinären S2k-Leitlinien, die 2013 veröffentlicht werden und das gesamte Alter von 0 bis 5;11 Jahren abdecken, wurden diese Aspekte berücksichtigt. Schlafund Fütterstörungen werden als eigenständige Störungen behandelt, das exzessive Schreien als belastendes Symptom, das bei älteren Säuglingen ab einem Alter von 3 bis 6 Monaten allerdings mit Entwicklungsrisiken assoziiert sein kann. Grundsätzlich ist es sinnvoll bei der Definition bzw. Klassifikation von Störungen im Säuglingsund Kleinkindalter eine kategoriale Perspektive einzunehmen. Das bedeutet, dass eine Störung bzw. Verhaltensauffälligkeit als eine Psychopathologie des Kindes gesehen wird, die natürlich im Kontext der Beziehung zu den Eltern betrachtet werden muss. Zudem muss bei der Klassifikation auch die komplexe Entwicklungsdynamik in den ersten Lebensjahren in die Betrachtung mit einbezogen werden. Die hohe Variabilität und Dynamik von Entwicklungsprozessen erfordert eine sorgfältige Abgrenzung zwischen normalen und pathologischen Entwicklungsphänomenen.

Weiterhin ist zu beachten, dass besonders im Säuglingsund Kleinkindalter die Schwierigkeiten des Kindes nicht nur einem Störungsbereich zugeordnet werden können, sondern dass häufig mehrere Störungen komorbid auftreten. Bei einem beachtlichen Teil der betroffenen Säuglinge und Kleinkinder sind mehrere Bereiche beeinträchtigt (Miller-Loncar, Bigsby, High, Wallach & Lester, 2004; Schmid, Schreier, Meyer & Wolke, 2011).

Exzessives Schreien

Die Definition und Klassifikation des exzessiven Schreiens ist schwierig, da es international bisher kein einheitlich klar definiertes Konstrukt ist. So fehlen sowohl im DSM-IV-TR (Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003), im ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 2009) als auch im Zero-to-Three (National Center for Infants, 2005) spezifische Kriterien zur Klassifikation des exzessiven Schreiens, wie Zahl oder Intensität der Symptome, die für die Diagnose vorhanden sein müssen. In der Diagnostischen Klassifikation Zero-to-Three werden zwar Regulationsstörungen als primäre Störung (Achse 1) aufgeführt, jedoch umfasst dieses Konstrukt das exzessive Schreien eher als belastendes Symptom und weniger als selbstständige Störung.

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