Ein soziales Europa als Herausforderung. L'Europe sociale en question - Von der Harmonisierung zur Koordination sozialpolitischer Kategorien. De l'harmonisation à la coordination des catégories d'action publique

Ein soziales Europa als Herausforderung. L'Europe sociale en question - Von der Harmonisierung zur Koordination sozialpolitischer Kategorien. De l'harmonisation à la coordination des catégories d'action publique

von: Karim Fertikh, Heike Wieters, Bénédicte Zimmermann

Campus Verlag, 2018

ISBN: 9783593438481

Sprache: Deutsch

357 Seiten, Download: 13827 KB

 
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Ein soziales Europa als Herausforderung. L'Europe sociale en question - Von der Harmonisierung zur Koordination sozialpolitischer Kategorien. De l'harmonisation à la coordination des catégories d'action publique



Vorwort Europa steht heute vor Herausforderungen, die von vielen Zeitgenossen als historisch einzigartig betrachtet werden. Die Finanzkrise nach 2008 hat das Vertrauen in die Handlungsmacht der europäischen Institutionen wie in den Zusammenhalt der europäischen Staaten erschüttert; der gesellschaftliche und politische Umgang mit den Formen und Folgen intensivierter Migration sowie schließlich das Erstarken populistischer Bewegungen haben das Projekt der europäischen Integration in eine tiefe Repräsentations- und Legitimationskrise geraten lassen. Davon sind die Geistes- und Sozialwissenschaften nicht unberührt geblieben. Hatten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gerade aus diesen Fächern lange Zeit fortschreitende Europäisierung als Gewissheit angenommen und in ihren Forschungen die gedankliche Ordnung Europas sowie das Voranschreiten der Einigung nicht hinterfragt, so sehen auch sie sich heute neuen Herausforderungen gegenüber. Sind ihre Annahmen wachsender Verflechtung, ' immer engerer Union ' (wie es im Vertrag von Maastricht heißt) und einer entstehenden gemeinsamen europäischen Identität tatsächlich richtig? Der vorliegende Band ist Teil einer Reihe, die aus dem Projekt ' Saisir l'Europe - Europa als Herausforderung ' hervorgegangen ist. In diesem Projekt haben von 2012 bis 2017 sieben französische und deutsche Forschungsinstitutionen in einem Verbund zusammengearbeitet: die Humboldt-Universität zu Berlin, die Goethe-Universität Frankfurt, das Centre Marc Bloch in Berlin, das Centre interdisciplinaire d'études et de recherches sur l'Allemagne (CIERA), das Institut franco-allemand de sciences historiques et sociales in Frankfurt, das Deutsche Historische Institut Paris und die Fondation Maison des sciences de l'homme Paris. Darüber hinaus haben auch zahlreiche Partner-Institutionen in Frankreich und Deutschland mitgewirkt. Thematisch geht es in dem Vorhaben um einen neuen Zugriff auf die drängenden Probleme Europas. Dabei sind wir nicht von den politischen Fragestellungen des ins Stocken geratenen Einigungsprozesses ausgegangen. Vielmehr haben wir uns entschlossen, drei zentrale Themen aufzugreifen, mit denen derzeit die Gesellschaften Europas konfrontiert sind und deren Behandlung für die Zukunft des Kontinents von entscheidender Bedeutung ist: die Entwicklung des Sozialstaats und der sozialen Sicherung, die Frage der Nachhaltigkeit mit ihren Auswirkungen auf Gesellschaft, Wirtschaft und Lebensform, schließlich die Probleme der Gewalt und Gewaltanwendung insbesondere in Ballungsräumen und städtischen Zentren. Zu jedem dieser drei Themen hat sich eine Forschungsgruppe konstituiert, die im Wesentlichen selbständig gearbeitet, zugleich aber die Querverbindungen zu den beiden anderen Gruppen gepflegt hat. Die konkrete Arbeit der drei Gruppen wurde jeweils von einem Tandem aus einem deutschen und einem französischen Postdoc geleitet, die auf diese Weise auch einen wesentlichen Anteil an der Ausbildung der Doktoranden geleistet haben. Das Projekt zeichnet sich durch eine Reihe von Merkmalen aus, deren Bündelung es von klassischen Forschungsvorhaben in den Geistes- und Sozialwissenschaften abhebt. Dazu gehören unter anderem: die durchgehende Mischung der Generationen von Doktoranden, Postdoktoranden und Senior Researchers, die durchgehende Kombination von Interdisziplinarität und Internationalität, die Verbindung von Forschung und Forschungsausbildung sowie die dichte Vernetzung von im deutsch-französischen Feld aktiven wissenschaftlichen Einrichtungen, die bisher noch nie so eng miteinander kooperiert haben. Für ein solches, auf fünf Jahre veranschlagtes Forschungsnetzwerk von dieser Größenordnung (insgesamt über 60 beteiligte Wissenschaftler) gab es in der deutschen und der französischen Forschungslandschaft keine einschlägigen Förderungsträger. Deshalb haben sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung und das Ministère de l'enseignement supérieur et de la recherche zu einer Grundfinanzierung entschlossen, für die ihnen großer Dank geschuldet ist. Die beteiligten Institutionen haben ihrerseits eigene Mittel bereitgestellt. Weitere Mittel zur Durchführung der Gruppenarbeit konnten bei der Deutsch-französischen Hochschule eingeworben werden, der wir ebenfalls zu Dank verpflichtet sind. Der deutsch-französische Kern des Projekts ist kein Selbstzweck. Er funktioniert als Ausgangspunkt und erster Schritt zur Internationalisierung, vor allem für die Jüngeren unter den beteiligten Wissenschaftlern, zu denen im Übrigen auch Doktoranden und Postdoktoranden aus anderen Ländern wie Großbritannien und Italien oder aus Lateinamerika gehören. Internationalisierung bedeutet hier nicht nur Mehrsprachigkeit, sondern auch Kenntnis verschiedener akademischer Kulturen, Sensibilität für die Pluralität der methodischen Ansätze und vor allem reflexiver Umgang mit den eigenen Ausgangspositionen und mit den spezifischen disziplinären Vorgaben. Für alle diese notwendigen Ingredienzien gelungener Internationalisierung von europäischen Geistes- und Sozialwissenschaften - das hat sich auch wieder bei ' Saisir l'Europe - Europa als Herausforderung ' bestätigt - ist die deutsch-französische Konstellation ein besonders fruchtbares Feld. Die Arbeit an den analytischen Kategorien, die Auseinandersetzung mit der historischen Dimension des Zugangs auch zu aktuellen Fragen, schließlich die politischen Referenzen der Europa-Diskussionen erscheinen im deutsch-französischen Prisma in einprägsamer Schärfe, auch und gerade dann, wenn andere Positionen mitgedacht werden müssen. Europäische Forschung ist, das zeigt auch ' Saisir l'Europe - Europa als Herausforderung ', ein Polylog, der auf einem dialogischen Prinzip aufbaut. Das soll in den Bänden dieser Reihe exemplarisch vorgeführt werden. Gabriele Metzler und Michael Werner Sprecher des Forschungsnetzwerks ' Saisir l'Europe - Europa als Herausforderung ' Préface Pour nombre de contemporains, l'Europe fait aujourd'hui face à des défis sans précédent. La crise financière déclenchée en 2008 a porté atteinte à la confiance dans la capacité d'action des institutions européennes comme dans la cohésion des états de l'Europe. Les réactions, tant du point de vue de la sphère sociale que du monde politique, face l'accroissement des flux migratoires, réfugiés économiques ou politiques, travailleurs détachés, ainsi que le renforcement des mouvements populistes ont plongé le projet d'intégration européenne dans une crise profonde qui concerne à la fois les processus de représentation et légitimation démocratique. Les sciences humaines et sociales n'ont pas pu se tenir à l'écart de cette crise. Alors que les chercheurs issus de ces disciplines ont pendant longtemps considéré le processus de l'européanisation comme allant de soi et que leurs travaux n'ont interrogé ni les soubassements de l'architecture intellectuelle de la construction européenne ni les modalités d'avancement du chantier, ils se retrouvent aujourd'hui face à des défis inattendus. Leurs hypothèses sur des interpénétrations croissantes, sur une ' union toujours plus étroite ', comme il est écrit dans le traité de Maastricht, sur l'éclosion d'une identité européenne commune se sont-elles effondrées ? Le présent volume s'intègre dans une série qui réunit les travaux issus du projet ' Saisir l'Europe - Europa als Herausforderung '. De 2012 à 2017, ce projet a rassemblé au sein d'un réseau sept institutions d'enseignement supérieur et de recherche françaises et allemandes : la Humboldt-Universität de Berlin, la Goethe-Universität à Francfort/Main, le Centre Marc Bloch à Berlin, le Centre interdisciplinaire d'études et de recherches sur l'Allemagne (CIERA), l'Institut franco-allemand de sciences historiques et sociales à Francfort/Main, l'Institut historique allemand de Paris, et la Fondation Maison des sciences de l'homme Paris. D'autres institutions partenaires en France et en Allemagne ont également été associées au projet. Le projet vise à aborder à nouveaux frais des questions considérées comme cruciales pour la compréhension de l'Europe. Nous ne sommes pas partis des questions d'ordre politique que soulevaient les blocages du processus d'intégration européenne. Bien au contraire, nous avons identifié trois thématiques centrales auxquelles sont confrontées les sociétés européennes et qui nous apparaissent déterminantes pour le futur du continent européen. Il s'agit de l'évolution de l'Etat social et de la protection sociale, de la question du développement durable et de ses conséquences sur la société, l'économie et les modes de vie, et enfin des violences urbaines, dans les centres et les périphéries des métropoles. Autour de ces thèmes se sont constitués trois groupes de recherche, travaillant à la fois principalement de manière autonome mais également de manière transversale en établissant des ponts entre eux. Le travail concret au sein de chacun de ces trois groupes était piloté par un binôme de chercheurs post-doctorants français et allemand, contribuant ainsi fortement à la formation des doctorants. Le projet se distingue d'autres projets plus classiques en sciences de l'homme et de la société par un faisceau de particularités. On peut citer, entre autres, la cohabitation étroite entre différentes générations de chercheurs, doctorants, post-doctorants et chercheurs confirmés, la combinaison constante entre interdisciplinarité et internationalisation, la mise en relation entre recherche et formation à la recherche, la mise en réseau resserrée de différents établissements d'enseignement supérieur et de recherche actifs dans le champ franco-allemand, qui n'auront jamais coopéré de manière aussi intense jusqu'à présent. Un projet d'une telle ampleur, il réunit environ soixante chercheurs, tous niveaux confondus, inscrit dans une durée de cinq ans, n'entrait dans aucun programme de soutien à la recherche prédéfini, ni en France ni en Allemagne. C'est pourquoi le Bundesministerium für Bildung und Forschung et le Ministère de l'enseignement supérieur et de la recherche ont pris la décision de soutenir financièrement le projet, et nous leur en sommes infiniment reconnaissants. Les institutions impliquées dans le réseau ont également apporté leur contribution en mobilisant des ressources propres. Enfin, l'Université franco-allemande a rendu possible différentes manifestations scientifiques du réseau pendant toute la durée du projet. Nous lui exprimons ici toute notre gratitude. Le noyau franco-allemand du projet n'est ni une fin en soi ni un horizon, mais bel et bien au contraire le fondement et la première étape d'une internationalisation, en premier lieu pour les plus jeunes des chercheurs impliqués dans le réseau, parmi lesquels se trouvent également des doctorants et post-doctorants venant de Grande-Bretagne, d'Italie et d'Amérique du Sud. L'internationalisation ne se réduit pas ici simplement à la pratique de plusieurs langues, mais elle permet l'apprentissage de différentes cultures scientifiques et développe une sensibilité pour une pluralité d'approches méthodologiques et, surtout, promeut un retour réflexif sur les propres présupposés scientifiques et disciplinaires des participants. La constellation franco-allemande offre un terrain particulièrement fructueux pour faire éclore tous les ingrédients nécessaires à une internationalisation réussie des sciences humaines et sociales européennes, - ' Saisir l'Europe - Europa als Herausforderung ' en porte un témoignage parlant. Le travail sur les catégories analytiques, la réflexion sur la dimension historique de l'accès aux questions contemporaines, enfin les présupposés politiques des discours sur l'Europe apparaissent à travers le prisme franco-allemand dans toute leur acuité, et ce d'autant plus que d'autres points de vue entrent en ligne de compte. La recherche sur l'Europe, et c'est ce que montre ' Saisir l'Europe - Europa als Herausforderung ', s'apparente à une polyphonie qui repose sur un principe dialogique. C'est que nous avons tenté de démontrer dans cette série. Gabriele Metzler et Michael Werner Responsables du réseau de recherche ' Saisir l'Europe - Europa als Herausforderung ' Einleitung 1. Ein soziales Europa als Herausforderung Wenn heute von Europa die Rede ist, dann sehr oft im Modus der Krise. Schlagworte wie Euroschuldenkrise und Brexit, Austeritätspolitik und Flüchtlingsmisere, Eurokratie und Demokratiedefizit bestimmen seit Jahren die medialen Debatten innerhalb wie außerhalb der EU. Vor diesem Hintergrund über das Soziale Europa zu sprechen, mag fast anachronistisch erscheinen. Denn in den erwähnten Krisenerzählungen taucht Europas soziale Dimension zumeist allenfalls in ihrer Negation auf. Soziale Ungleichheiten in Europa wachsen und rechtspopulistische Parteien haben das Versprechen einer besseren gemeinsamen Zukunft in und durch Europa längst durch die Drohkulisse des Verlusts nationaler Souveränität und Solidarität ersetzt. Europa bzw. die EU, so der Befund, ist nicht ' sozial ', sondern vor allem eine wirtschaftliche und bürokratische Union. Letzteres aus deshalb, weil der Fokus der Integration von jeher auf wirtschaftlichen Fragen gelegen habe und ein soziales Europa ohnehin institutionell nicht angelegt gewesen sei. Die Abwesenheit der sozialen Dimension in der EU wird damit zum strukturellen und weniger zum politischen Problem erklärt. Nun lassen sich durchaus gute Argumente für das Vorhandensein bestimmter Pfadabhängigkeiten und institutioneller Architekturmerkmale finden, die die Herausbildung sozialer Arrangements in der EU erschwert haben. Wer jedoch nur nach sozialpolitischen Institutionen schaut, die analog zu jenen funktionieren, die innerhalb der unterschiedlichen Wohlfahrtsstaaten soziale Absicherung und Kohäsion sichern, der wird schon allein deshalb nichts finden, weil viele nationale Sozialpolitiken sich nun einmal von internationalen Politikarrangements und subtileren Formen transnationaler Sozialpolitik unterscheiden. Außerdem gerät bei dieser ' Strukturperspektive ' aus dem Blick, dass es notwendig ist, auch die Akteure und ihr Handeln mit in den Blick zu nehmen. Institutionelle Architekturen und bürokratische Routinen sind immer auch das Ergebnis des situierten Handelns der beteiligten Akteure. Europa gab und gibt es nicht ohne Konflikte und Richtungsstreitigkeiten - und diese haben stets auch die soziale Dimension des europäischen Integrationsprozesses betroffen. Das Soziale Europa als Schlagwort existiert bereits seit den 1950er-Jahren, wurde seither jedoch mit sehr unterschiedlichen, mehr oder weniger politisierten oder technischen Bedeutungsgehalten verwendet. Entsprechend groß sind die Gräben zwischen den Verfechtern , Gegnern und den vom Sozialen Europa Enttäuschten. So oder so wurde über Jahrzehnte hinweg erbittert um europäische Arrangements sozialer Sicherheit, um die Ausgestaltung ' sozialen Fortschritts ' und um eine bessere Zusammenarbeit all jener Institutionen, die in den europäischen Nationalstaaten das Soziale organisierten, gerungen. Hier lohnt es sich, so eine zentrale These dieses Sammelbandes, näher hinzuschauen und die traditionsreiche vergleichende Sozialstaatsforschung in und über Europa um zusätzliche Perspektiven zu erweitern, die den horizontalen und vertikalen Verflechtungen zwischen den Akteuren, Institutionen und ' Ebenen ' in Europa (und darüber hinaus) mehr Beachtung schenken. Die Wissensproduktion im Feld der Sozialstaatsforschung blickt auf eine lange interdisziplinäre Tradition zurück. Die Frage, wie Individuen, gesellschaftliche Gruppen und staatliche Bürokratien im Bereich des Sozialen interagieren, welche rechtlichen, sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen verschiedene (individuelle, private und staatliche) Akteure miteinander eingehen und wie sich diese Beziehungen im Laufe der Zeit wandeln, ist unbestritten Disziplinen übergreifend ein relevantes Thema. Ein Thema zudem, das niemals wirklich ' abgeschlossen ' ist, da es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der meisten Bürgerinnen in Europa bis in die alltäglichsten Verrichtungen hinein prägt. Im Sozialstaat werden nicht nur materielle Güter zwischen Individuen und gesellschaftlichen Gruppen (um-)verteilt und miteinander in eine raum-zeitliche Beziehung gesetzt, auch immaterielle Güter und sozialstaatliche Semantiken wie Freiheit, Sicherheit, Risiko, Gerechtigkeit und Gleichheit werden permanent debattiert und (neu-)verhandelt. Die Frage wie ' wir ' leben wollen (und wer dieses ' wir ' eigentlich ist), wem was auf welcher Grundlage (Leistung, unveräußerliche Rechte oder erworbene Ansprüche) zusteht und auf welchem Wege soziale Rechte, Leistungen oder Güter zugeteilt oder auch weggenommen werden (sollen), wird durch institutionelle sozialstaatlichen Settings formatiert, vor allem jedoch durch die Akteure im Sozialstaat selbst immer wieder neu artikuliert. Dabei stehen sozialstaatliche bürokratische Arrangements und Leistungen immer auch in einem Spannungsverhältnis zu den vielfältigen sozialen Alltagspraktiken der Bürgerinnen und Bürger und zu normativen Vorstellungen dessen, was ' gerecht ' oder ' verhältnismäßig ' ist. Die Frage, was Staat und Gesellschaft dem oder der Einzelnen schulden (und umgekehrt), wird selten abschließend beantwortet und steht daher bei jeder sozialpolitischen Reform zumindest implizit erneut auf der Agenda. Dies gilt umso mehr, als die vermeintlich übersichtliche Trias ' Staat - Gesellschaft - Individuum ' zunächst zwar als abstraktes Modell zur Komplexitätsreduktion taugt, nicht jedoch, um die stetig im Wandel befindlichen Beziehung der unterschiedlichen Akteure im Sozialstaat wirklich ' dicht ' zu beschreiben und zu erfassen. Denn einerseits verharrt diese Trias analytisch fast vollständig auf der Ebene des Nationalstaats und verweist damit auf den inzwischen vielfach kritisierten und dennoch weiterhin virulenten ' methodischen Nationalismus ' , der sich gerade in der historischen Sozialstaatsforschung über Dekaden gehalten hat. Transnationale Akteure wie Gewerkschaften und soziale Bewegungen, internationale Organisationen wie die OECD, die IAO oder die Weltbank und selbst suprastaatliche Arrangements, wie sie sich im Kontext der Europäischen Union finden lassen, werden häufig allenfalls am Rande in den Blick genommen. Sozialpolitik wird entsprechend oft auf der ' Ebene ' des Nationalstaates verortet, so dass sowohl nichtstaatliche (lokale) Akteure - zum Beispiel Wohlfahrtsverbände und Unternehmen - als auch internationale Organisationen und (sozial-)rechtliche Konventionen schnell aus dem Fokus geraten. Andererseits ignoriert die oben skizzierte Trias die ' Situiertheit ' der Akteure, sprich die Kontextgebundenheit ihres Handelns und ihre Fähigkeit, Forderungen und Interessenlagen situationsabhängig und passend zum Kontext zu artikulieren. Die in den Blick genommenen Akteure sind tatsächlich selten in genau eine Kategorie (oder ' Ebene ') einzuordnen. Gerade im Bereich der Sozialpolitik sind die Grenzen zwischen Staat und Zivilgesellschaft oft fließend, sind lokale Akteure immer wieder auch in internationalen Organisationen aktiv und können bürokratische Funktionsträger in unterschiedlichen professionellen Kontexten und Situationen sehr vielfältig handeln und unterschiedliche Forderungen artikulieren. Sozialpolitik ist - und dies ist einer der Ausgangspunkte aller im vorliegenden Band versammelten Texte - also weder eine rein nationale noch eine rein staatliche Domäne. Sowohl die in den Blick genommenen Institutionen als auch die betrachteten Akteure und ihr Handeln lassen sich nur verstehen, wenn sie historisiert und in Relation zu den mit ihnen interagierenden Akteuren gesetzt werden. Eine Verschiebung institutioneller Funktionslogiken, sozialstaatlicher Semantiken oder das Aufkommen neuer relevanter Akteurs-Konstellationen und sozialer Kräfteverhältnisse lässt sich nur erkennen, wenn zum einen langfristige Entwicklungen in den Blick genommen werden und zum anderen das räumliche und zeitliche Analyseraster auch zur Fragestellung passt. Dies gilt ganz besonders für die europäischen Wohlfahrtsstaaten, denen in der Forschungsliteratur oftmals gleichzeitig sowohl eine große (wachsende) Familienähnlichkeit als auch je eigene ' nationale ' Besonderheiten zugeschrieben werden. Einerseits, so lautet die oft vertretene These, haben die Sozialstaaten in Europa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts recht ähnliche Entwicklungen durchlaufen: Bürokratisierung, Verrechtlichung, Professionalisierung und Ökonomisierung sind nur einige der Schlagworte, unter die ganz unterschiedliche sozialpolitische Formationen, Akteure und institutionelle Arrangements in den einzelnen Nationalstaaten subsummiert und anschließend unter den Begriff des ' europäischen Sozialmodells ' gebracht werden. Dabei schwingen normative Vorstellungen und Prognosen, die eine tendenzielle Konvergenz und fortschreitende Angleichung (im Idealfall nach oben) implizieren, durchaus mit. Anderseits zeigt etwa die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung - insbesondere die unter dem Schlagwort der ' Varieties of Capitalism ' geführte Debatte - dass die Varianz der unterschiedlichen historischen Pfade sowohl hinsichtlich der spezifischen institutionellen Muster als auch hinsichtlich sehr vielfältiger Akteurskonstellationen innerhalb Europas nach wie vor groß ist. Eine ' automatische ' Konvergenz sozialpolitischer Arrangements steht daher eher nicht zu erwarten. Der Umgang mit diesen wachsenden Familienähnlichkeiten einerseits und den schwer überwindbaren nationalen Eigenheiten/Pfadabhängigkeiten andererseits ist gerade vor dem Hintergrund des europäischen Integrationsprozesses eine Herausforderung. Zum einen eine Herausforderung theoretischer und systematischer Natur (worauf blicken wir, was vergleichen wir und welches sind die wirklich signifikanten Ähnlichkeiten/Unterschiede) und zum anderen eine der eigenen Verortung und Positionierung. Denn der europäische Integrationsprozess war und ist gepflastert mit (diversen) sozialpolitischen Verheißungen, die sich (durchaus nicht bruchlos) bis heute im Begriff des ' Sozialen Europa ' wiederfinden lassen. Dabei reicht es nicht aus, nur auf den Text der Römischen Verträge und (folgender EG- bzw. EU-Dokumente) zu blicken und ihn mit dem jeweiligen Status Quo abzugleichen. Papier ist geduldig und umstritten sind seit den 1950er-Jahren nicht nur einzelne Formulierungen, die den sozialen Gehalt des Integrationsprozesses betreffen, sondern vor allem ihre Auslegung und Anwendung in der Praxis. Die damit zusammenhängenden Konflikte betreffen uns als französische, britische, italienische, deutsche und zugleich europäische Bürgerinnen und Bürger sowie auch als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (samt unseren Rentenansprüchen oder unseren europäischen Krankenversicherungskarten) oftmals ganz unmittelbar, so dass eine Distanz zum Gegenstand nicht leichtfällt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Sozialstaat und seine institutionellen und semantischen Elemente eben keinesfalls ' neutral ' sind, sondern dass Sozialpolitik niemals ohne normative und räumliche Bezüge auskommt. Wie wir (erneut: wer ist wir?) das Soziale erfassen, wie etwa ' Armut ' gemessen wird - also mittels welcher Daten und Indikatoren und durch wen und für welches Gebiet - hat durchaus Einfluss darauf, wie glaubwürdig und legitim die ' Ergebnisse ' hinterher von den in der Untersuchung erfassten Bürgerinnen und Bürgern bewertet werden. Was als ' gerecht ' empfunden wird - ob zum Beispiel soziale Umverteilung ein Bestandteil von Rentenprogrammen sein soll oder nicht -, ist immer auch abhängig von institutionellen Settings (Finanzierungsmodellen, Funktionslogiken, Gruppe der Bezugsberechtigten etc.), den Positionen relevanter gesellschaftlicher Akteure, der Altersstruktur der Bevölkerung und der Rolle, die Umverteilung in anderen bereits existierenden sozialstaatlichen Programmen spielt. Die Beiträge in diesem Sammelband blicken aus verschiedenen Perspektiven auf die Herausforderungen, vor denen sozialpolitische Akteure in Europa stehen. Zur Analyse unterschiedlicher sozialpolitischer Bereiche, Prozesse und Dynamiken haben die hier versammelten Autorinnen und Autoren teilweise auf sehr verschiedene Fragestellungen und Beispiele zurückgegriffen. Kohärenz, Systematik und nicht zuletzt auch die Originalität des Bandes werden neben dem übergreifenden Thema - Geschichte, Entwicklung und Aktualität des Sozialen (in) Europa - vor allem über drei methodische Prämissen sichergestellt. Alle in diesem Band versammelten Texte beschäftigen sich erstens intensiv mit der Entstehung neuer europäischer Kategorien, indem sie auf die mit den Kategorisierungsprozessen verbundenen Konflikte und Aushandlungsprozesse blicken. Zweitens berufen sich die Texte auf die Socio-Histoire, sprich auf einen spezifischen sozialhistorischen Zugang, der soziologisches, problemorientiertes Fragen mit dezidiert historischen Arbeitsweisen verbindet. Schließlich beziehen sich die Autorinnen und Autoren drittens auf das von Anselm Strauss entwickelte Konzept der ' Artikulationsarbeit ' und damit auf die Art und Weise, wie sich scheinbar chaotische Handlungen von Individuen zu kohärenten bürokratischen Routinen und internationalen Standards zusammenfügen. Alle drei methodischen Prämissen werden im Folgenden näher erläutert und in Bezug zum Thema dieses Sammelbandes gesetzt.

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