Wer wagt, gewinnt? - Wie Sie die Risikokompetenz von Kindern und Jugendlichen fördern können

Wer wagt, gewinnt? - Wie Sie die Risikokompetenz von Kindern und Jugendlichen fördern können

von: Laura Martignon, Ulrich Hoffrage

Hogrefe AG, 2019

ISBN: 9783456957265

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 18767 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Wer wagt, gewinnt? - Wie Sie die Risikokompetenz von Kindern und Jugendlichen fördern können



1 Risiko und Risikokompetenz

Es war einmal … So beginnen viele Märchen, insbesondere die der Gebrüder Grimm. Anschließend wird in der Regel der Protagonist des Märchens genannt und seine Geschichte erzählt – meist eine Folge von Ereignissen, Widerfahrungen und Prüfungen. Der Protagonist, von dem wir im ersten Kapitel erzählen, ist zunächst die Menschheit. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels gehen wir der Frage nach, wie sich die Verfassung der Menschen und damit auch ihr Verhältnis zum Thema Risiko im Laufe der Zeit verändert hat. Im zweiten Abschnitt lassen wir dann Kinder zu Wort kommen, um so etwas über ihr Verhältnis zu Unsicherheiten, Wahrscheinlichkeiten und Risiken zu erfahren.

Auch wenn wir weder bei der Entwicklung der Menschheit noch bei der kindlichen Entwicklung weit zurückgehen werden, so reichen doch schon einige wenige Einblicke aus, um zu sehen, dass es ein weiter Weg war (bzw. ist) von einem ersten, intuitiven Erfassen von Risiken bis hin zu klaren Begriffen, adäquaten Modellen und kompetenten Entscheidungen in riskanten Situationen. Diesen Weg kann man auch als den Aufbau von Risikokompetenz beschreiben, und genau dies wollen wir im dritten Abschnitt etwas näher ins Auge fassen. Das vierstufige Modell für den Aufbau von Risikokompetenz, welches wir dort vorstellen, bildet dabei zugleich die Struktur für die folgenden vier Kapitel (2, 3, 4 und 5). Im letzten Abschnitt schließlich (1.4) besprechen wir methodisch-didaktische Aspekte der Vermittlung von Risikokompetenz.

1.1 Vom Paradies zur Risikoanalyse

Jedes Volk hat seine Mythen. Sie alle erzählen davon, wie die ersten Menschen aus einem göttlichen Weltengrund hervorgingen und zunächst auch in Gemeinschaft mit Göttern lebten. Aber die Mythen berichten des Weiteren, wie sich diese Verbindung veränderte. Gemäß einer der beiden Schöpfungsgeschichten aus dem Alten Testament wurden die ersten Menschen aus dem Paradies vertrieben, in welchem sie zuvor noch im Einklang mit dem Willen Gottes lebten. Und die germanische Sage berichtet von Ragnarök – der Götterdämmerung. Diese Trennungen und Distanzierungen wurden vielfach als Verlust erlebt, doch im Gegenzug erlangten die Menschen Selbstbewusstsein und wurden zur Eigenverantwortung aufgerufen.

Auf diesem Weg verstummten die Götter allerdings nicht von heute auf morgen und auch nicht für alle Menschen zur gleichen Zeit. Vielmehr gab es Vermittler. So haben die Götter z. B. noch zu den Propheten bzw. durch Orakel gesprochen, und dies zu Zeiten, als andere sie schon nicht mehr direkt vernehmen konnten. Das war zumindest das Verständnis der damaligen Menschen. Heutige Atheisten sehen das natürlich anders und haben z. B. für die wirren Reden und die Rauschzustände der Pythia, des Orakels von Delphi, ganz banale physiologische Erklärungen.

Aber nicht nur Personen, auch Gegenstände wurden zu Götterboten. Noch im Mittelalter wurden Runen, Würfel oder Muscheln für die „Divination“ verwendet: Sie wurden zu Werkzeugen, um den Willen der Götter zu erforschen. Was sich für uns heute als Zufallsexperiment darstellt, das war für unsere Vorfahren in einem bestimmten Kontext ein Gottesurteil. Ähnliches lässt sich z. B. auch für eine Geburt sagen. Stirbt dabei heutzutage in einer Klinik Mutter oder Kind, so stehen die Ärzte am Pranger und müssen nachweisen, dass sie keine Fehler gemacht haben. Vor wenigen Jahrhunderten noch wäre niemand auf die Idee gekommen, hier von menschlichem Versagen zu sprechen – da war das einfach Gottes Wille. Was zeigt sich daran? Nun, aus dem Darinnen-Stehen in einer als göttlich empfundenen Ordnung, deren Weisheit man mit Ehrfurcht begegnete und der man sich fügte, wurde ein Sich-gegenübergestellt-Sehen einer Reihe von Gefahren und Bedrohungen, die es mittels Wissenschaft und Technik zu beherrschen gilt. Und damit sind wir auch schon unversehens beim Thema Risiko angelangt.

Woher kommt eigentlich das Wort „Risiko“, und was war ursprünglich damit gemeint? Wir finden das lateinische Wort risicum erstmals ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, wo es in Verträgen, sogenannten commende, zwischen reisenden Kaufleuten und ihren Kapitalgebern in den italienischen Seerepubliken Genua, Venedig und Pisa verwendet wird (Scheller, 2017). „Risiko“ ist vom Verb resicare abgeleitet, das unter anderem „zerreißen“ oder „brechen“ bedeutet, und beinhaltet nicht nur Gefahr (periculum), sondern auch Verlust. Die spanischen und portugiesischen Verben razgar und riscar für „zerreißen“ sind davon abgeleitet.

Entsprechend verpflichteten Kapitalgeber die reisenden Kaufleute im Mittelalter, ihnen Werte – sollten diese verloren gehen – zu ersetzen. Kam es dann tatsächlich zu einem Verlust, so konnte das einen Händler vollständig ruinieren. Um dieses „Risiko“ zu minimieren, begannen die Kaufleute sich zusammenzuschließen und gegenseitig abzusichern (Scheller, 2017). Die Idee der Versicherung war geboren.

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