Prokrastination - Ein Manual zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens

Prokrastination - Ein Manual zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens

von: Anna Höcker, Margarita Engberding, Fred Rist

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783840921797

Sprache: Deutsch

209 Seiten, Download: 6243 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Prokrastination - Ein Manual zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens



Der Zusammenhang der Tendenz zum passiven Aufschieben mit der Tendenz zum aktiven Prokrastinieren erscheint plausibel: Wer anfangs stark vermeidet, bei dem steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er kurz vor dem Termin in hektische Aktivität verfällt . Aber weder in einer Metaanalyse zur Frage der Differenzierungsmöglichkeit der beiden Typen, noch in einer eigenen dimensionsanalytischen Untersuchung an einer Stichprobe von N = 4 .000 Befragten konnte Steel (2010) Evidenz für die Differenzierung dieser beiden traditionellen Subtypen der Prokrastination finden . Allerdings ist es klinisch nachvollziehbar, dass Betroffene anfänglich versuchen, ein Selbstbild als „arousal procrastinator“ aufrecht zu erhalten, da es selbstwertschützend verwendet werden kann, im Unterschied zu der Feststellung, ein „avoidance procrastinator“ zu sein . Wenn überhaupt, dann könnte man also von verschiedenen Ausprägungen der Prokrastination im Zeitverlauf statt von verschiedenen Typen sprechen.

1.8 Prokrastination und Depressivität

Wir haben herausgestellt, dass Prokrastination eine dysfunktionale Form der Selbstregulation ist, die negative Konsequenzen für die Lebensführung hat, aber auch erheblichen psychischen Aufwand zur Aufrechterhaltung fordert . Prokrastination kann dadurch selbst zur Ursache für psychische Beeinträchtigungen von Krankheitswert werden .

In Querschnitts-Untersuchungen wird regelmäßig ein starker Zusammenhang zwischen der Prokrastinationstendenz und der Unzufriedenheit mit sich selbst und dem Vorliegen depressiver Symptome festgestellt (Steel, 2007) . Diesen Zusammenhang finden wir sogar noch ausgeprägter bei den von uns befragten Studierenden (vgl . Kasten 4) . Damit ist jedoch nichts über den ursächlichen Zusammenhang gesagt und die Störung des Arbeitsverhaltens könnte auch die Folge einer Depression sein . Nur eine Längsschnittstudie könnte die Richtung der Kausalität klären . In einer weiteren Befragung von Studierenden unterschiedlicher Semester sahen wir jedoch, dass der Zusammenhang zwischen Depressivität und Prokrastination systematisch mit der Semesterzahl zunimmt (Deters, 2006): Die höchsten Werte von Depressivität und Prokrastinaton und auch den stärksten Zusammenhang zwischen beiden Variablen fanden wir bei Studierenden, die sich zum Zeitpunkt der Befragung bereits außerhalb der Regelstudienzeit befanden . Dieses Ergebnis spricht dafür, dass Prokrastination Depressivität nach sich zieht, denn mit zunehmender Semesterzahl werden die Folgen des Aufschiebens von Prüfungen und Abschlussarbeiten für die Studierenden immer gravierender .

1.9 Abgrenzung der Prokrastination von bekannten psychischen Störungen

Wir stellen in diesem Manual ein Diagnoseund Behandlungsrational für Prokrastination vor . Damit setzen wir voraus, dass das Aufschieben von wichtigen Tätigkeiten mit wiederholten oder anhaltenden Nachteilen für das berufliche, soziale und private Leben eines Menschen tatsächlich ein eigenständiges Syndrom darstellt . Das Nichterledigen wichtiger Aufgaben kann als eigenständige Störung, aber auch als Symptom einer auf Achse I oder Achse II des DSM kodierten psychischen Störung auftreten . Unmittelbar einsichtig ist dies für affektive Störungen und die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), zu deren Leitsymptomen auch Störungen des Arbeitsverhaltens gehören . Aus der Beschreibung des Problemverhaltens auf der kognitiven, der emotionalen und der Verhaltensebene und durch die Berücksichtigung von Informationen über den Beginn, die Variation und den zeitlichen Zusammenhang mit Symptomen anderer psychischer Störungen lässt sich jedoch Prokrastination als eigenständige Störung von Aufschieben als Symptom oder Folge bekannter Achse-I-Störungen abgrenzen .

Zur Erleichterung differenzialdiagnostischer Entscheidungen haben wir in Tabelle 2 für eine Reihe bekannter Störungen sowohl die Symptome aufgeführt, die ähnliche Störungen des Arbeitsverhaltens bewirken wie Prokrastination, als auch Merkmale dargestellt, die helfen, Prokrastination von solchen Störungen abzugrenzen . Die hier vorgestellten Überlegungen entsprechen unserer klinischen Erfahrung, sie basieren nicht auf systematischen Untersuchungen dieser Überschneidungen – eben deshalb, weil Prokrastination bisher nicht als eigene abgrenzbare Störung im Zusammenhang mit den anderen Störungen untersucht wurde . Zur Differenzialdiagnose zwischen Prokrastination und anderen Störungen muss natürlich immer auch geprüft werden, inwieweit die diagnostischen Kriterien für eine in Frage kommende Störung erfüllt sind .

Depressive Störung. Die zentralen Merkmale einer mittelschweren bis schweren Depression sind Niedergeschlagenheit, Interessenund Antriebsverlust, Hoffnungslosigkeit und eine Reihe körperlicher Symptome, wie Appetitverlust und Schlafstörungen . In der Abgrenzung der Prokrastination von Depression ist darauf zu achten, ob ein allgemeiner Verstärkerverlust vorliegt, ob die Antriebsstörung sich auf alle Interessenbereiche erstreckt und ob weitere Symptome einer Depression vorhanden sind, insbesondere im vegetativen Bereich . Zur Störungsentwicklung ist zu explorieren, ob die Arbeitsstörung schon vor dem Beginn der depressiven Veränderung bestanden hat oder ob sie über die Zeit synchron mit den Stimmungsänderungen variierte .

Prüfungsangst. Auch Patienten mit Prüfungsangst berichten in der Regel, dass ihnen die Auseinandersetzung mit dem Lernstoff und das systematische Vorbereiten auf eine Prüfung schwer fallen . Kennzeichen dieser Vermeidungssituation ist jedoch eine ängstliche Anspannung und eine kognitive Vorwegnahme von Aspekten der Prüfungssituation beim Lernen . Die Aufgabe wird also dadurch aversiv, dass bereits beim Denken an das zu erledigende Pensum ständig Gedanken an die bevorstehende Prüfungssituation auftauchen . Die Kriterien „ängstliche Anspannung“ und „kognitive Vorwegnahme der Prüfungssituation“ helfen, Prüfungsangst von Prokrastination zu unterscheiden .

Selbstunsichere Persönlichkeit und Sozialphobie.

Ähnlichkeiten zur Prokrastination ergeben sich aus dem Vorherrschen von Versagensangst, Insuffizienzerleben, Selbstabwertung und dem Vermeiden von Leistungssituationen, z . B . ein Referat halten oder an einer Diskussion teilnehmen . Dieses Vermeidungsverhalten und diese Aspekte des Erlebens sind sowohl bei selbstunsicheren und sozialphobischen als auch bei prokrastinierenden Personen festzustellen, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung und mit unterschiedlicher Begründung . Bei der selbstunsicheren Persönlichkeit und bei der sozialphobischen Störung werden primär soziale Situationen wegen der damit verbundenen Angst vor Bewertung gemieden . Auch in Leistungssituationen ohne die Gegenwart von anderen ist bei diesen beiden Störungen die gedankliche Beschäftigung mit der Bewertung durch andere vorherrschend . Personen mit Prokrastination dagegen vermeiden Vortragssituationen meist schlicht deshalb, weil sie fürchten, es aufgrund des Aufschiebens nicht zu schaffen, sich angemessen darauf vorzubereiten .

Problematischer Substanzgebrauch. Ein schädlicher oder abhängiger Gebrauch von psychotropen Substanzen beeinträchtigt das Arbeitsverhalten, so dass Pflichten und Aufgaben, die zur Rollenerfüllung gehören, vernachlässigt werden . Patienten mit z . B . langzeitigem Cannabisabusus fehlt oft eine feste Struktur im Tagesablauf, Anstrengungsbereitschaft und damit zusammenhängend auch die zum Belohnungsaufschub notwendige Selbstdisziplin . Differenzialdiagnostisch wichtig ist hier vor allem die eindeutige Abklärung des Substanzkonsums nach Häufigkeit und Menge, mit den Auswirkungen auf die Tagesorganisation und generell der Folgen des Substanzkonsums für den Lebensvollzug des Patienten . Prodromalstadium einer Psychose. Charakteristische Merkmale dieser Phase sind ein Mangel an Organisiertheit, eine schlechte Strukturierung des Tages und ein erratischer Tag-Nacht-Rhythmus; diese gehen in der Regel einher mit der weitgehenden Vernachlässigung von wichtigen, aber auch alltäglichen Aufgaben . Differenzialdiagnostisch ist es wichtig, Symptome aus dem Bereich der Positivund Negativsymptomatik zu prüfen, einschließlich einer allgemeinen Anhedonie und bizarrer Lebensund Verhaltensgewohnheiten . Die Entwicklung in den letzten Jahren ist sorgfältig zu berücksichtigen . Passiv-aggressive Persönlichkeit. Mit einer Akzentuierung dieser Persönlichkeitsdimension bis zum Ausmaß einer Störung geht die Reaktanz gegen von außen auferlegte Anforderungen, das Aufschieben der Erfüllung derselben oder auch das Nichterledigen und Boykottieren solcher Anforderungen einher . Zur differenzialdiagnostischen Beurteilung muss erfasst werden, wie allgemein diese Form der Arbeitsstörung ist: Zeigt sie sich auch in anderen Bereichen, die nicht fremdbestimmt sind? Ein Unterscheidungsmerkmal ist auch, dass Patienten mit einer derart akzentuierten Persönlichkeit typischerweise keine positiven Zielformulierungen erstellen . Anders als bei der Prokrastination werden auch kaum gute Vorsätze zur Erledigung von Aufgaben formuliert . Ebenso fehlt die Anspruchshaltung der eigenen Person gegenüber, obwohl häufig eine geradezu masochistische Selbstabwertung für die Nichterfüllung oder Verzögerung wichtiger Aufgaben verbalisiert wird .

Zwanghafte Persönlichkeit. Personen mit zwanghaften Zügen haben oft Schwierigkeiten, Aufgaben fertig zu stellen bzw . berichten auch davon, dass die Aufgaben ihnen erst im längeren Zeitverlauf aversiv geworden sind . Allerdings äußert sich Zwanghaftigkeit im Allgemeinen eher bereits bei Entscheidungen als beim Beginn von Tätigkeiten, über deren Wichtigkeit nicht mehr entschieden werden muss . Diese Entscheidungsunsicherheit beeinträchtigt in einer Vielzahl von Entscheidungssituationen das Handeln . Die Fertigstellung von Aufgaben kann bei Personen mit zwanghaften Zügen durch ihre rigiden Anforderungen an eigene Leistungen extrem verzögert und erschwert werden, z .B . bis hin zur Nicht-Abgabe einer bereits fertiggestellten Arbeit .

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). In Darstellungen der ADHS bei Erwachsenen wird häufig eine enge Beziehung zwischen ADHS und Störungen des Arbeitsverhaltens beschrieben . Im Kindesalter tritt ADHS entweder als motorische Hyperaktivität, als Unaufmerksamkeit in vielen Situationen oder in einer gemischten Form auf . Im Erwachsenenalter ist die Störung schwieriger festzustellen: Die hyperaktive Variante ist bei Erwachsenen selten, dagegen überwiegt die aufmerksamkeitsgestörte Form . Allerdings ist die Literatur in der phänomenologischen Beschreibung der Störung uneinheitlich, da es bislang immer noch keine expliziten Kriterien für ADHS bei Erwachsenen gibt, sondern nur Extrapolationen der für das Kindesalter formulierten Kriterien in das Leben Erwachsener (vgl . RetzJunginger, Sobanski, Alm, Retz & Rösler, 2008) . Als wesentliche Kennzeichen gelten jedoch die leichte Ablenkbarkeit, der Konzentrationsmangel und die mangelnde Impulskontrolle in dem Sinne, dass unterschiedliche Tätigkeiten häufig unterbrochen, nicht sorgfältig zu Ende geführt und auch nicht rechtzeitig begonnen werden . Hieraus ergibt sich aber auch ein zentrales Unterscheidungskriterium zur Prokrastination als eigenständige Störung: Prokrastinierende sind weniger hinsichtlich des Durchhaltens einer Tätigkeit beeinträchtigt, sondern insbesondere bzgl . des Anfangens . Es finden sich bei Prokrastination auch weniger Hin weise für eine Unaufmerksamkeit in vielen Situationen: Wenn mangelnde Konzentration beklagt wird, dann vor allem bei der ungeliebten Tätigkeit . Ein weiterer Hinweis ist ein ständiges Gefühl der inneren Unruhe, das Erwachsene mit ADHS häufiger berichten .

Wegen der Ähnlichkeit der Arbeitsstörung bei Prokrastination und bei ADHS wäre zu erwarten, dass im Querschnitt bei einem bestimmten Prozentsatz von Prokrastinierern auch ADHS-Kriterien erfüllt sind und umgekehrt auch bei Patienten mit ADHS häufig Prokrastination vorliegt . In einer eigenen Untersuchung (Deters, 2006) gaben wir Studierenden in einer Onlinebefragung zum einen ein Instrument zur Erfassung der Prokrastination (Aitken Procrastination Scale (APS); Helmke & Schrader, 2000; Schouwenburg, 1995; Patzelt & Opitz, 2005a) vor, zum anderen zwei Instrumente zum Screening von ADHS: die ADHS-Selbstbeurteilungsskala (ADHS-SB; Rösler et al ., 2004) zur Einschätzung der aktuellen Symptomatik im Erwachsenenalter und die Wender-Utah-RatingSkala in einer Kurzform (WURS-k; Retz-Junginger, et al ., 2002) zur retrospektiven Einschätzung der Symptomatik im Kindesalter . Wir wählten die Kombination dieser beiden ADHS-Instrumente, da eine ADHS-Diagnose nach den aktuellen Klassifikationskriterien nur dann vorliegen kann, wenn die Symptomatik bereits im Kindesalter bestanden hat . Tatsächlich fanden wir mit dieser Kombination der ADHS-SB und der WURS-k, dass 4 % aller befragten Studierenden einen Summenwert erreichten bzw . überschritten, bei dem ein Verdacht auf eine ADHS-Diagnose naheliegt . Bei der Hälfte dieser Probanden fanden wir zusätzlich hohe Prokrastinationswerte in der APS, die dem Mittelwert unserer wegen Prokrastination behandelten Patienten entsprachen oder sogar noch höher lagen . Umgekehrt erfüllten nur 20 % der Studierenden mit hohen Prokrastinationswerten auch die Kriterien für ADHS nach der WURS-k und der ADHS-SB . Diese Befunde machen zwar eine bestimmte Komorbidität deutlich, zeigen aber genügend Unabhängigkeit der beiden Störungen, die eine Differenzierung im Einzelfall nötig macht . Eine eingehendere Diskussion zum Vergleich der beiden Störungen findet sich in Rist, Pedersen, Höcker und Engberding (2011) .

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