Prokrastination - Ein Manual zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens

Prokrastination - Ein Manual zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens

von: Anna Höcker, Margarita Engberding, Fred Rist

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2017

ISBN: 9783840928420

Sprache: Deutsch

281 Seiten, Download: 5447 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Prokrastination - Ein Manual zur Behandlung des pathologischen Aufschiebens



Kapitel 1 Beschreibung der Störung (S. 9-10)

1.1 Aufschieben und Prokrastination

Mit dem Begriff „Aufschieben“ bezeichnen wir die Verlagerung einer Entscheidung oder einer Aktivität von einem früheren auf einen späteren Zeitpunkt. Das englische Verb „to procrastinate“ bzw. das deutsche „prokrastinieren“ geht auf das lateinische „procrastinare“ zurück, das ohne negative Konnotation als „aufschieben“, „vertagen“ (crastinum = morgen, der morgige Tag) zu übersetzen ist. Ursprünglich war damit also eine eher positiv bewertete Verhaltensweise gemeint, nämlich das reflektierte Aufschieben von schwerwiegenden Entscheidungen bis zu einem günstigen Zeitpunkt, der einer Handlung mehr Erfolg sichert. Im Sprachgebrauch der Gegenwart überwiegt jedoch die negative Konnotation von Prokrastination im Sinne von „zögern“, „zaudern“, „eine Sache nicht in Angriff nehmen, obwohl das längst fällig wäre“, gegenüber der ursprünglichen Interpretation von Aufschieben als Gegenteil ungestümen und unüberlegten Handelns.

Im Alltag bestimmt eine Vielzahl von Faktoren, welche Aktivität wann, wie und zugunsten welcher alternativen Tätigkeit aufgeschoben wird. In dem Maße, wie Arbeitsabläufe frei gestaltet werden können, müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt immer wieder Entscheidungen zwischen verschiedenen gerade durchführbaren Aktivitäten getroffen werden. Das Aufschieben von Tätigkeiten ist deshalb häufig, alltäglich und nicht primär dysfunktional, sondern entspricht einer flexiblen Handlungskontrolle, mit der spontan auf aktuellen Handlungsbedarf reagiert werden kann. Oft sind die vorgezogenen Tätigkeiten solche, die kurzfristig anfallen und schnell zu erledigen sind oder deren vorgezogene Erledigung durch ihre Dringlichkeit begründet werden kann. Solche Entscheidungen sind jedoch nicht allein durch die objektive Wichtigkeit und Dringlichkeit der zu wählenden Aktivitäten bestimmt, sondern immer auch durch psychische Einflussfaktoren. Die Entscheidung, was aufgeschoben wird und was weitergeführt wird, steht in Zusammenhang mit der momentanen Stimmung, der Antizipation von Erfolg und Misserfolg, dem erwarteten Einfluss der Tätigkeit auf die Stimmung und generell der Abwägung von Kosten und Nutzen einer unmittelbaren im Vergleich zu einer späteren Ausführung. Die Stärke und Richtung des Einflusses solcher Faktoren wird durch die Konstellation von situationsübergreifenden Persönlichkeitsmerkmalen eines Menschen noch weiter modifiziert.

Nur wenige Personen werden von sich sagen können, dass sie sich bei freier Wahlmöglichkeit in solchen Entscheidungssituationen immer zugunsten des wichtigeren Ziels und zu Ungunsten der alternativen, aber momentan attraktiver oder dringlicher erscheinenden Aktivitäten entscheiden. Aufschieben wird jedoch dann zum Problem, wenn persönlich wichtige Tätigkeiten überwiegend zugunsten weniger wichtiger Tätigkeiten aufgeschoben werden, wenn also die tatsächlich durchgeführten Handlungen anhaltend nicht den eigenen Absichten zur Erreichung wichtigerer Ziele entsprechen. Ein Thema für die Klinische Psychologie wird Aufschieben erst dann, wenn ein solches Verhalten habituell wird und trotz bereits gravierender negativer Folgen nicht eingeschränkt werden kann. Tätigkeiten zur Erreichung persönlich wichtiger Ziele werden dann so oft oder in so vielen Bereichen aufgeschoben, dass der Lebensvollzug beeinträchtigt ist und das Aufschieben zu persönlichen Nachteilen von erheblichem Ausmaß führt. Diese Nachteile umfassen sowohl objektive Leistungseinbußen (z. B. schlechte Noten, verlängerte Ausbildungszeiten, nicht erreichte Ausbildungsabschlüsse), Belastungen zwischenmenschlicher Beziehungen (Ärger und Enttäuschung anderer über nicht eingehaltene Leistungsversprechen), als auch Beeinträchtigungen des eigenen Wohlbefindens (z. B. Stressgefühle, Schlafstörungen, reduziertes Selbstwertgefühl, Depressivität bis zur manifesten Depression). Ein derart chronisches und exzessives Aufschieben wird in der Ausbildung, im Beruf und auch im privaten Leben zum Problem für die Betroffenen selbst und ihre Interaktionen mit anderen. Das immer wieder praktizierte Vermeiden der Arbeit für ein persönliches Ziel, obwohl dieses als wichtig angesehen wird und obwohl Zeit dafür zur Verfügung steht, erscheint den Betroffenen dabei oft selbst so rätselhaft wie den Menschen, die mit ihnen zu tun haben. Dieses dysfunktionale, mit Leid, negativen Konsequenzen für das eigene Leben und Risiken für die Entwicklungen weiterer Störungen verbundene Verhalten ist von gewöhnlichem Aufschieben abzugrenzen. Im Folgenden sprechen wir hier von pathologischem Aufschieben oder Prokrastination.

1.2 Kennzeichen von Prokrastination

Prokrastination findet sich als Thema in der wissenschaftlichen Literatur etwa seit 1970, verstärktes Interesse an Prokrastination ist aber erst ab ca. 1990 festzustellen. Viel Verdienst für die Festlegung und Ausgestaltung des Forschungsthemas Prokrastination hatte das Buch „Procrastination and Task Avoidance“ von Ferrari, Johnson und McCown (1995). Wichtige weitere Sammelveröffentlichungen sind ein Sonderheft zum Thema Prokrastination („Procrastination: Current issues and new directions“) im „Journal of Social Behavior and Personality“, herausgegeben von Ferrari und Pychyl (2000), sowie ein Sammelband zu ersten Behandlungsansätzen bei Prokrastination, herausgegeben von Schouwenburg, Lay, Pychyl und Ferrari (2004). Mittlerweile sind hunderte von Einzelarbeiten zum Thema Prokrastination zumeist im englischen Sprachraum erschienen. Im Vergleich zu anderen problematischen Verhaltensweisen oder Persönlichkeitsmerkmalen ist Prokrastination jedoch noch immer erstaunlich wenig erforscht. Insbesondere verwundert der Mangel an einschlägigen Arbeiten im deutschen Sprachraum, obwohl in der deutschen Psychologie vielfach zu motivationalen und volitionalen Modellen des Lernens und Arbeitens publiziert wird (vgl. Heckhausen & Heckhausen, 2010). Der Großteil der einschlägigen Untersuchungen betrifft „akademische Prokrastination“, womit Prokrastination speziell bei Schülern, Studierenden oder wissenschaftlich Tätigen in akademischen Einrichtungen gemeint ist: Zumeist wird in solchen Untersuchungen bei Schülern oder Studierenden das Ausmaß der selbstberichteten Aufschiebetendenz erfasst und mit anderen Persönlichkeits- oder Situationsmerkmalen in Beziehung gesetzt. Selten werden dabei jedoch klinisch bedeutsame und behandlungsbedürftige Ausprägungen der Aufschiebetendenz – also der Prokrastination im von uns vorgeschlagenen engeren Sinn – gesondert erfasst und beschrieben. Entsprechend findet sich in der Literatur zum Aufschiebeverhalten eine ganze Reihe von Definitionen von Prokrastination, die aber nicht speziell klinisch formuliert sind (vgl. Kasten 1).

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