Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

von: Manfred Döpfner, Jan Frölich, Gerd Lehmkuhl

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2012

ISBN: 9783840919398

Sprache: Deutsch

184 Seiten, Download: 3858 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)



Kinder mit einer kombinierten Störung haben weitaus größere Entwicklungsrisiken als Kinder, die nur die Symptomkriterien einer ADHS erfüllen. Sie weisen auch im Durchschnitt eine stärker ausgeprägte Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsproblematik auf (Reeves et al., 1987; Shapiro & Garfinkel, 1986), und sie zeigen eine erhöhte Rate an Teilleistungsstörungen, wie Lese-Rechtschreib-Störungen (Mc Gee et al., 1984; Moffit & Silva, 1988). Der sozio-ökonomische Status dieser Gruppe ist zudem geringer als bei einfacher ADHS (Lahey et al., 1988). Schließlich ist die Langzeitprognose beider Gruppen deutlich unterschiedlich. Kinder und Jugendliche mit einer ADHS und einer besonders früh einsetzenden, ausgeprägten komorbiden Störung des Sozialverhaltens haben ein deutlich höheres Risiko für spätere Delinquenz, Substanzmissbrauch und die Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (August et al., 1983; Loeber et al., 1988; Mannuzza et al., 1989, 1991).

Depressive Störungen. In Abhängigkeit von der untersuchten Stichprobe und den verwendeten diagnostischen Instrumenten liegt die Komorbidität einer depressiven Störung mit einer ADHS im Kindesalter zwischen 9 und 38 % (Anderson et al., 1987; Biederman et al., 1992; Milberger et al., 1995). Meistens treten die depressiven Symptome nach Manifestation der ADHS auf (Biederman et al., 1995; Kovacs et al., 1994). Vermutlich verhindern das anhaltende Schulversagen und die zunehmenden sozialen Probleme dieser Kinder den Aufbau eines gesunden Selbstbewusstseins und unterstützen die Entwicklung depressiver Störungen.

Angststörungen. Etwa 30 bis 40% der Kinder mit ADHS, die in einer Klinik vorgestellt werden, haben begleitend eine Angststörung (Tannock, 2009). Die Diagnose komorbider Angststörungen bei Kindern mit ADHS bereitet allerdings einige Schwierigkeiten, da die Eltern ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die externalen Auffälligkeiten ihres Kindes lenken und diese folglich im Vordergrund der Symptomschilderungen stehen. Das diagnostische Augenmerk muss sich deshalb diesbezüglich stärker auf das Kind zentrieren.

Tic-Störungen. Bis zu 30 % der Kinder mit einer ADHS weisen begleitend eine Tic-Störung auf (Comings, 1990). Patienten mit Tourette-Syndrom haben umgekehrt in bis zu 70% der Fälle eine ADHS, wobei sich die ADHS vor der Tic-Störung entwickelt (Döpfner et al., 2010a).

Umschriebene Entwicklungsstörungen, Lernstörungen und Teilleistungsschwächen. Kinder mit einer ADHS weisen häufiger psychomotorische Entwicklungsverzögerungen auf (Gillberg & Kadesjö, 2009): Die Sprachentwicklung ist gehäuft verzögert und die expressive Sprachfähigkeit ist teilweise beeinträchtigt (Tannock & Brown, 2009). Im Schulalter werden vermehrt Lese-Rechtschreib-Störungen oder isolierte Rechenstörungen angetroffen. Bis zu 40% der Kinder mit ADHS haben auch Leseund Rechtschreibstörungen, wobei die Verbindung zu Unaufmerksamkeit enger ist als zu Hyperaktivität-Impulsitivität (Willcutt & Pennington, 2000). Die Intelligenzleistungen von Kindern mit einer ADHS sind um sieben bis 15 IQ-Punkte vermindert (u.a. Ackerman et al., 1986). Ob diese Diskrepanzen hauptsächlich durch verminderte Aufmerksamkeitsleistungen in der Testsituation verursacht werden, ist bislang nicht geklärt. Taylor et al. (1991) weisen nach, dass Kinder mit ausgeprägter Hyperaktivität keine verminderten Intelligenztestwerte aufweisen, wohl aber Kinder mit ausschließlicher Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität.

1.3 Pathogenese

Generell wird eine Interaktion psychosozialer und biologischer Faktoren vermutet, die letztlich zum klinischen Bild der ADHS führen. Andererseits weisen die Studien der letzten Jahren eindeutig darauf hin, dass psychosozialen Faktoren eine geringere Rolle und biologischen Faktoren ein zunehmend größerer Stellenwert für die Entstehung von ADHS eingeräumt werden muss, wobei die ausschließliche Betrachtung biologischer Faktoren nur zu einem begrenzten Teil die Entwicklung von ADHS erklären kann. Ein allgemeines Modell (vgl. Abb. 3) geht von einer erhöhten biologischen Vulnerabilität aus, die sich in bestimmten Funktionsdefiziten äußert, wobei sich die ADHS-Symptome dann manifestieren, wenn eine unzureichende äußere Steuerung erfolgt oder wenn spezielle Anforderungen an Aufmerksamkeit und Ausdauer durch Spielund Gruppensituationen bzw . Kindergarten und Schule gestellt werden.

1.3.1 Neurobiologische Faktoren

Die Vielzahl der Untersuchungsbefunde lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass bei Patienten mit ADHS eine grundlegende Dysfunktion des kortikalenstriatalen Netzwerkes vorliegt. Hierbei scheinen erbliche Faktoren eine bedeutende Rolle zu spielen mit einer wahrscheinlich genetisch bedingten dysfunktionalen Informationsverarbeitung zwischen Frontalhirn und Basalganglien. Diese Funktionseinschränkung kann jedoch möglicherweise auch durch Komplikationen in der Schwangerschaft, durch Exposition gegenüber toxischen Substanzen oder durch neurologische Erkrankungen und durch Einflüsse der psychosozialen Umwelt mitverursacht oder verstärkt werden.

Genetische Faktoren

Zwillingsstudien belegen eine hohe Heretabilität der ADHS zwischen 60 und 90%, wobei in diese Heretabilität sowohl genetische Einflüsse als auch Gen-Umwelt-Interaktionen einfließen (Banaschewski, 2010). Die Befunde weisen auf ein multifaktorielles Vererbungsmuster hin, bei denen mehrere Genvarianten mit verschieden großen Effektstärken eine Rolle spielen. Genetische Verbindungen scheinen auch zu anderen Störungsbildern zu bestehen.

Die bisher ermittelten molekulargenetischen Befunde legen ebenfalls nahe, dass die ADHS in den meisten Fällen einen komplexen Erbgang (im Gegensatz zu den monogenen Erkrankungen mit nur einem kausalen Krankheitsgen) aufweist und sehr wahrscheinlich durch das Zusammenwirken multipler Genvarianten untereinander und mit Umweltrisiken bedingt ist (und somit die extreme Ausprägung einer Verhaltensdimension darstellt). Kandidatengene für ADHS sind wichtige Modulatoren der dopaminergen sowie serotonergen Signalwege. So wurden in einer der bislang größten Familienstudien, die vom International Multisite ADHD Gene (IMAGE) Projekt durchgeführt wurde, bei der Untersuchung von 51 Kandidatengenen Assoziationen von 18 Genen mit ADHS gefunden (Brookes et al., 2006b). Metaanalysen bestätigen signifikante Risikosteigerungen für verschiedene Risikoallele (DRD4, DRD5, SLC6A3, SNAP-25, HTR1B), die jeweils allerdings nur kleine Effekte (Odds Ratios: 1,1 bis 1,5) auf die Ausprägung des Phänotyps haben. Auch werden – unter Annahme einer standardisierten Normalverteilung und eines additiven genetischen Zusammenwirkens – durch die bislang replizierten Risiko-Polymorphismen insgesamt lediglich etwa 3.2% der phänotypischen Varianz bzw. nur 4.2 % der Heritabilität (76 %) aufgeklärt (Stringaris & Asherson, 2008).

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